Der lachende Vogel XIII

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Die neue Woche begann im Kloster mit der gewohnten Ruhe. Die Besucher waren abgereist. Die Gemeinschaft der Brüder war wieder unter sich. Nicht ganz, einige Bedienstete hatte ihre Arbeit am Morgen angetreten.

Prior Johannes würde erst am nächsten Morgen zu seinem Vortrag in die große Stadt aufbrechen. Er würde an der theologischen Fakultät vor angehenden Seminaristen den Vortrag über Luther halten.

Er saß gerade über den letzten redaktionellen Korrekturen, als es an seiner Tür klopft.

Es war Bruder Jacobo.

„Bruder Johannes, beim Empfang ist ein Anruf für sie eingegangen. Sie werden um Rückruf gebeten.“

„Danke, Jacobo. Ich komme sofort.“

Als der Prior am Empfang den Hörer abnimmt, erkennt er die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort.

„Marta Lucia, was ist?“

„Prior Johannes, Alexandra ist heute nach verschwunden. Wir haben sie überall gesucht.“

Marta Lucia stockt. Ihre Stimme klingt panisch, verzweifelt.

„Was sollen wir nur machen“, fährt sie fort.

Prior Johannes fehlen die Worte. Für Sekunden herrscht Stille, dann hat er sich gefasst.

„Sie wird wiederkommen.“

„Was macht sie so gewiss?“

„Alexandra hat es gut bei ihnen. Sie wir einen Grund haben gegangen zu sein. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dabei vergisst, wo ihr neues Zuhause ist.“

„Glauben sie wirklich?“

Die Stimme Marta Lucias klingt skeptisch.

„Ja, ich bin ganz sicher.“

„Darf ich sie wieder anrufen, wenn mir danach ist?

„Aber sicher, jederzeit. Gott segne sie!“

Als der Prior den Hörer aufgelegt hat, schaut er gedankenverloren auf das Tor des Klostereingangs. Er kann verstehen, dass Menschen hier hinter den Mauern Schutz, Sicherheit und Geborgenheit suchen.

In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden, hört es sich innerlich Jesu Worte zitierend sagen.

Ja, der Mensch hat Ängste. Ängste, die manchmal so massiv sind, dass einem das Atmen schwer wird. Gerade die vermeintlich unbegründeten Ängste können besonders lähmend wirken.

Muss man aber wirklich, wie Jesus es andeutet, die Welt überwunden haben, um angstfrei leben zu können? Gehört die Angst, auch die unbegründete, nicht zum Wesen des Menschen dazu?

Selbst hier hinter den dicken Klostermauern, selbst in diesem von der Außenwelt doch eher abgeschirmten Raum hinterlässt sie ihre Spuren.

Wer das Leben und die ihm anvertrauten Seinen liebt, wird gelegentlich vor lauter Angst und Sorge nicht ein noch aus wissen. Der Blick verengt sich. Allein das Sichtbare und Wahrnehmbare scheint zu existieren. Das Leben ist so und nicht anders, denken wir. In Wirklichkeit ist unsere Welt erstarrt.

Diese Welt gilt es zu überwinden, wird ihm klar. Sie muss überwunden werden, weil sie jeden Blick in die Zukunft versperrt. Zum ersten Mal bekommt er einen Zugang zu Jesu Worte „Ich habe die Welt überwunden.“

Keine Weltflucht deutet sich hinter den Worten an. Kein Dermaleinst, das das Hier und Jetzt ablöst. Aus der Dunkelheit des Augenblicks ersteht etwas Neues.

„Eine Art Auferstehung“, sagt der Prior laut vor sich hin.

Teresa, die Frau am Empfang, schaut ihn verwundert an.

„Ach nichts, Theresa“, nimmt der Prior die Verwunderung auf.

„Du kennst mich doch: Manchmal muss ich halt laut denken.“

Er hat noch nicht ganz ausgeredet, da ist er schon auf dem Weg zurück in sein Zimmer.

Der Weg führt den Prior durch den Garten. Er folgt einem inneren Impuls und nimmt auf einer Gartenbank Platz. Es ist sonnig. Er schließt die Augen und genießt die Wärme der Sonnenstrahlen.

Als er die Augen nach einer Weile wieder öffnet, erblickt er den lachenden Vogel. Dieser Sitz mit etwas Abstand vor ihm auf dem Rasen.

„Sei gegrüßt.“

„Ich grüße dich. Kann ich dich etwas fragen?“

„Nur zu.“

„Kann es sein, dass du vor einigen Tagen jemanden vor dem Sprung in die Tiefe bewahrt hast.“

„Kann sein. Warum?“

„Dacht ich’s mir.“

„Glaubst du immer noch, ich sei ein einfältiger Körnerpicker?“

Der Vogel lacht auf, so als würden ihn seine eigenen Worte amüsieren

Der Prior schreckt zusammen. Es ist für ihn immer noch seltsam, einen Vogel lachen zu hören.

„Du beginnst, mein Interesse zu wecken“, gibt der Prior etwas kleinlaut zu.

Der Vogel muss wieder lachen.

Durch die Sonne geblendet, schließt der Prior erneut für einen Augenblick die Augen. Als er sie öffnet, ist der lachende Vogel verschwunden.

Im Laufe des weiteren Vormittags ertappt er sich häufiger dabei, wie er aus dem Fenster an seinem Schreibtisch schaut und Ausschau nach dem lachenden Vogel hält.