Der lachende Vogel XIV

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Der Prior stand am Waschbecken und schaute er wie zufällig in sein Spiegelbild. Sein Blick verweilte. Was er sah, war ein in die Jahre gekommener älterer Mann mit ergrauten Haaren.

Seit er im Kloster lebte hatte das Äußere mehr und mehr an Bedeutung verloren. Es gab niemanden, den er durch sein Äußeres, was sich ja auf sein Gesicht und seine Hände beschränkte, hätte gefallen wollen. An einem gepflegten Erscheinungsbild war ihm dennoch gelegen.

Auf irgendeine Art und Weise suchte sein Blick heute etwas anderes im Spiegelbild. Es war als schaue er durch das Spiegelbild hindurch. So, als könne er hinter dem Sichtbaren noch etwas Anderes erkennen.

Er sah sich als junger Mann von achtzehn Jahren. An jenem Abend als sein Blick im Spiegel ein anderer war. Als er sich sah und fragte, ob er mit dem, was er ausstrahlte, wohl seine Angebetete erreichen könnte. Damals war sein Liebe zu einer flüchtigen Bekanntschaft entbrannt. Sie waren sich auf einer der in der Abschlussklasse üblichen Feten begegnet. Hatten einige Worte miteinander gewechselt, ohne direkt miteinander vertraut zu werden. In der Nacht nach der ersten Begegnung konnte er nicht schlafen. Fragte sich immer und immer wieder, warum er nicht den Mut aufgebracht hatte, ein Treffen vorzuschlagen. Es war nicht Schüchternheit, es war eher die Angst, einen Korb zu erhalten. In Gedanken stellte er sich in jener Nacht Vieles vor, spürte in sich etwas für ihn bis dahin Unbekanntes. Mehr als ihren Namen hatte er in dem kurzen Gespräch nicht erfahren. Sicher, er hätte andere Mitschüler fragen können. Zog es dann doch vor, dem Zufall seinen Lauf zu lassen. Nur ein einziges Mal sah er sie wieder. Auf der anderen Straßenseite stand sie, wartete auf den Bus. Bevor sich einen Ruck geben konnte, war sie in den Stadtbus eingestiegen. Sie blieb für ihn die große Unbekannte. Wenn er Jahre später an sie zurückdachte, ergriff ihn eine seltsame Melancholie. Manches Mal stieg die Frage in ihm auf, was wohl geworden wäre, wenn er damals mutiger gewesen wäre. So hatte sein Leben den bis heute beschriebenen Verlauf genommen. Nicht, dass er mit diesem haderte. Und doch zumindest die Phantasie von der großen Liebe blieb im als Stachel im Fleisch erhalten.

So stand er tat und betrachtete sich. Er musste Schmunzeln, schüttelte leicht den Kopf und dachte bei sich:

„Mein Herr, was ist nur los mit dir? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist dabei dich zu verlieben.“

Wie nur, fragte er sich, während er sich von seinem Spiegelbild abwandte.

Er ging den letzten Tage und Begegnungen mit Gästen im Kopf nach. Er fand aber keine Antwort.

Es wird sich zeigen, sagte er zu sich selbst, als er in den strahlenden Sonnenschein des Nachmittags trat.

Mitte auf dem Weg vor ihm saß er da, der lachende Vogel.

Der Prior wurde durch diese unerwartete Begegnung aus seinen Gedanken gerissen.

„Du schaust nachdenklich drein“, sprach ihn der Vogel an.

„Nachdenklich?“

„Du solltest dich einmal sehen.“

Der Prior überlegte, was er dem lachenden Vogel sagen sollte.

„Ich habe an vergangene Zeiten gedacht… und mir überlegt… was geworden wäre, wenn mein Leben anders verlaufen wäre.“

„So, so, anders?“

„Ja, anders. Es ist doch klar, das kleinste Veränderungen im Leben, dem Leben im Ganzen eine völlig andere Wendung geben können.“

„Wohl wahr.“

„Und ich frage mich, warum das Leben dann doch so verläuft, wie es verläuft. Glaubst du, dass das Leben vorherbestimmt ist?“

„Du stellst vielleicht Fragen. Als Gottesmann solltest du dir selbst eine Antwort auf diese Frage geben können.“

„Warum denn das? Hinter allem einen Plan Gottes zu erkennen, führt auch mich Gottesmann, wie du mich nennst, eher in die Irre.“

„Man wird doch von einem Gottesmann erwarten können, dass er fest im Glauben steht.“

„Die Frage nach der Vorsehung hat doch nichts mit einem festen Glauben zu tun. Mein Glaube ist doch nicht weniger fest, wenn ich bisweilen meine Fragen an den Verlauf der Geschichte habe. Unser Land ist voll scheußlicher Ereignisse. Muss ich sie dir aufzählen? Ich glaube nicht. Dahinter kann und mag ich keine Vorsehung Gottes erkennen. Die Scheußlichkeiten der Menschen sind ihr Werk… auch wenn ich mir manchmal eine mächtigen, eingreifenden und rettenden Gott wünschen würde.“

„Warum sollte Gott das geraderücken, was die Menschen verbockt haben?“

Der Prior schwieg. Nicht, weil er nicht zu antworten gewusst hätte, sondern weil er merkte, dass das Gespräch über den Lauf der Dinge, sehr schnell bei Gott und der Frage nach der Vorsehung landete.

Dem lachenden Vogel konnte er keinen Vorwurf machen. Wie aus einem inneren Reflex hatte er ja selbst die Frage gestellt. Im Grunde hatte er durch diese Frage von seiner eigentlichen Frage abgelenkt. Wäre sein Leben anders verlaufen, wenn er damals mehr Mut aufgebracht hätte. Für seinen Mangel an Mut konnte er nun bei Leibe nicht Gott zur Verantwortung ziehen.

„Es ist an uns.“, erhob der lachende Vogel nochmals seine Stimme

„Wir sind es, die dem Leben die eine oder andere Wendung geben. Die Entscheidung für oder gegen etwas liegt allein bei uns.“

Ja, es hatte an ihm gelegen, dachte der Prior.