Der lachenden Vogel XVI

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Am nächsten Morgen brach der Prior schon früh auf. Bekanntermaßen empfahl es sich vor dem täglichen Berufsstrom den gewünschten Zielort in der großen Stadt zu erreichen.

Der Vortrag vor den Studenten verfehlte seine Wirkung nicht. An seinen Vortrag schloss sich eine längere und intensive Diskussion an. Am Ende machte sich der Prior zufrieden auf den Heimweg. Er hatte die Studenten dafür gewonnen zu haben, durchaus kritisch aber angemessen mit den Kritikern des Katholizismus umzugehen. Dies galt so war seine tiefe Überzeugung für alle Kritik, die auch heute noch zu Recht geäußert wurde. Kritik war dazu da, den Blick für die Dinge zu schärfen und Reformbewegungen immer dann einzuleiten, wo dies geboten war. Sicherlich stand die gegenwärtige Amtskirche vor großen Herausforderungen. Es galt in seinen Augen eine angemessene Antwort auf die anhaltende Diskussion zum pastoralen Dienst von Laien und zum Thema Homosexualität zu finden. Neue und vielleicht bislang für nicht möglich gehaltene Antworten mussten gefunden werden. Auch die katholische Kirche war eine Kirche, die sich ständig zu reformieren hatte. Dass nicht alle dazu bereit waren, war ihm klar.

Die Fahrt zurück ins Kloster gestaltete sich langwierig. Der übliche Stau in der großen Stadt machte ein schnelles Verlassen der Stadt unmöglich.

Während der Taxifahrer ständig die Spur im Bemühen, einige Meter gut zu machen, wechselte, dachte der Prior über seine Unruhe des Vortages nach. Seit dem Beginn seines Theologiestudiums, war sein Leben doch recht einspurig verlaufen. Nie hatte er in Erwägung gezogen, dass der eingeschlagene Weg nicht der richtige gewesen sei. Und irgendwie war er auch immer davon ausgegangen, dass genau dieser Weg für ihn vorherbestimmt gewesen sei.

Der Prior kam noch rechtzeitig zum Abendgebet im Kloster an. Er war der letzte, der die Kapelle betrat. Bruder Stephan spielte gerade – sehr zur Verzückung von Bruder Augustin – eine Fuge von Bach.

Prior Johannes ertappte sich dabei, dass er leicht mit den Füßen auf den Boden tippte. Er bewunderte Bruder Augustin für seine Spielkunst. Es war für ihn etwas Unfassbares wie man gleichzeitig mit Händen und Füßen und noch in der Art und in dem Tempo spielen konnte. Er schloss die Augen um sich besser auf die Fuge zu konzentrieren.

Musik hatte für ihn eine magisch zu nennende Wirkung. Jedes Mal, wenn er von einem Musikstück Bachs ergriffen wurde, schien es, als würde sich eine besondere Tür in ihm öffnen. Die Toccata und Fuge BWV 565 gehörte dazu. Musik aus einer ganz anderen Welt. Sphärische Klänge. Oft schon hatte er sich überlegt, in welcher inneren Stimmung Bach dieses Stück komponiert hatte.

Er versuchte sich an die einzigartigen Melodieläufe zu erinnern und begann leicht mit dem Kopf zu Wippen. Bruder Jacobo sah ihn etwas irritiert von der Seite an. Da der Prior immer noch die Augen fest geschlossen hielt, bekam er nichts davon mit.

Erst als Bruder Georg die Stimme erhob, schrak der Prior kurz auf.

„Dich, hoher Schöpfer,

lobe der Mensch mit

Leib und mit Seele.“

Musik, dies war ihm so klar, war eine der feinsten Arten Gott zu loben. Sie gab Gott die Ehre und etwas von dem zurück, was der Schöpfer in seiner Güte dem Menschen an Schöpferkraft in die Wiege gelegt hatte.

An diesem Abend wurde sein Lieblingspsalm gelesen. Im Geiste sprach er mit. So oft schon hatte er diesem Psalm gehört, dass er ihn auswendig kannte. Jedes Mal war es eine andere Stelle, die er mit Inbrunst mitbetete.

Aber eine Stelle war es, die seinen Geist beflügelte, die sein Herz einen Sprung machen ließ: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“

Die Menschheit war im Laufe der Geschichte weit vorangeschritten. Sie hatte sich über so vieles erhoben, vieles erforscht, entdeckt und entschlüsselt. Jedoch bis heute konnte sie nicht sagen, dass sie den Schlüssel des Lebens in den Händen hielt.

Für den Prior blieb Gott der Hüter allen Lebens.

Wir gehen oft hinaus in unserem Leben, dachte er, und kehren doch zurück zu unserem Schöpfer.

„Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“

War das Leben nicht auf geheimnisvolle Weise eingebunden in ein größeres Etwas, dieses Etwas, das Theologen gerne Vorsehung nannten. Etwas, das jedoch weit mehr war, als eine sture Abfolge eines vorgezeichneten Planes. Ein Etwas, wie ein Ineinandergreifen von vielen kleinen Alltäglichkeiten und Besonderheiten, die das Leben zu dem machten, was es war.

Was war der Mensch, dass Gott seiner gedachte? Was war das Leben jedes Einzelnen, das es in sich ein Teil der göttlichen Schöpfung war?