Der lachende Vogel XVIII

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Am nächsten Morgen erwachte der Prior angeschlagen unter dem Eindruck des nächtlichen Traumes. Er war froh, dass er den täglichen Aufgaben durch die Zeit in der Stille entgehen konnte. Er war bereit, sich ganz auf sich zu konzentrieren. Er wollte genauer in sich schauen.

Mit einer inneren Anspannung betrat der Prior die Kapelle zur Morgenandacht. In gewisser Weise war er froh, dass er für die nächsten Tage auch frei von jeglichen Aufgaben bei den Gebetszeiten war und sich ganz auf Zuhören konzentrieren konnte.

So hörte er die Schriftlesung des Morgens mit einer anderen Perspektive. Er fragte nicht, was er als Prior dazu hätte sagen müssen. Er hörte den Text, so wie jeder andere, der zu Gast im Kloster war.

„Die Leiden der gegenwärtigen Zeit bedeuten nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“

War seine Unruhe seit Tagen eine Art Leiden. Eines ließ sich nicht leugnen: diese Unruhe brachte ihn zum Nachdenken. Selten in der letzten Zeit hatte er Anlass gehabt, über sein Leben nachzudenken. Alles schien in geordneten Bahnen zu verlaufen. Es gab keinen Grund, an seinem Leben und seiner Bestimmung zu zweifeln.

Und doch führte in das Nachdenken gerade dorthin. Es war kein tiefer Zweifel. Eher von der Art, das er dem, was sich gerade ereignete voller Neugier nochmals nachging. Sollte er der Lesung zufolge, sein Nachdenken einfach diesem größeren Zusammenhang unterordnen.

War er es nicht aber, der in zahllosen Gesprächen seinem Gegenüber genau dieses immer vorhielt, über der Grundfrage nach dem Sinn des Lebens, das eigene Leben nicht aus dem Blick zu verlieren.

So richtig Privatleben hatte er nicht. Er hatte dies nie besonders in Frage gestellt. Warum also jetzt? Nur weil der lachende Vogel in sein Leben getreten war, weil er bisweilen eigentümliche Sachen träumte, gab es doch keinen Grund, über ein rudimentäres Privatleben zu grübeln.

Oder vielleicht doch?!

Am Abend ging er an seinen Schreibtisch. Er öffnete die Seitentür und holte einen alten Karton hervor. In diesem befand sich sein komplettes persönliches Hab und Gut.

Der Prior setzte sich, hob den Deckel und betrachtete den Inhalt. Ein kleines Sammelsurium an Fotos, einer Taschenuhr seines Großvaters, alte Briefe von seinen Eltern und ein vergilbtes Buch, dass keinen Platz in seiner Bibliothek auf dem Regel gefunden hat.

Er begann darin zu lesen:

Der Mensch ist mit Vernunft begabt. Er ist das Leben, das sich seiner bewusst ist… Dieses Bewusstsein seines gesonderten Daseins, das Bewusstsein seiner eigenen kurzen Lebensspanne und der Tatsache, dass er ohne seinen Willen geboren ist und gegen seinen Willen sterben wird, dass er vor jenen sterben wird, die er liebt, oder dass sie vor ihm sterben werden, das Bewusstsein seiner Einsamkeit und Getrenntheit, seine Hilflosigkeit gegenüber den Kräften der Natur und der Gesellschaft – das alles lässt seine besondere und abgetrennte Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis werden.“

War seine Existenz ein Gefängnis? Nein, dies konnte er nicht sagen. Andere mochte dies über das Klosterleben sagen. Aber auch eine Ehe, eine Familie konnte ein Gefängnis sein. Sollte er bedauern, dass er nie so recht einen anderen Menschen geliebt hatte?

Seinen Beruf, sein Leben im Kloster, das war es, was er liebte. In gewisser Weise galt dies auch für seine Mitbrüder. In keiner erotischen Weise, aber so, wie man einen guten Freund lieben kann.

Er dachte an den Traum in der vergangenen Nacht zurück.

Hätte er damals seiner ersten und einzigen großen Liebe seine Gefühle gestanden, vielleicht wäre alles anders verlaufen. Aber, warum sollte er damit hadern.

Vielleicht war die Liebe zwischen zwei Menschen eine Kunst, wie das Buch, daran konnte er sich erinnern, darzulegen versuchte. Vielleicht hätte er als junger Mann diese Kunst erst erlernen müssen, um wirklich in die Welt der Liebenden eintauchen zu können. Aber jetzt mit vorangeschrittenem Alter war es zu spät dazu.

Der Prior schüttelte den Kopf über sich selbst. Er musste sich über sich selbst wundern. Wer in einem Gespräch mit ihm davon sprach, dass etwas zu spät sei, erntete meist die Frage: „Warum zu spät?“

Er wurde nicht recht schlau aus sich und seine doch eher verworrenen Gedankengängen.

Was wäre, so fragte er sich, wenn die Frau seines nächtlichen Traumes eine reale Person wäre.

Der Prior stand auf und sah aus dem Fenster.

Der Mond war aufgegangen und hatte wieder ein Stück zugenommen.

Im viel eine alte Liedstrophe ein:

„Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.“

Der Dichter hatte Recht. War er nun selbst im Begriff, die ihm unbekannte Liebe zu einer Frau zu belächeln, weil er nie die tiefe Erfahrung von Liebe und Partnerschaft gemacht hatte.

Vielleicht war ja etwas dran. Aber im Grunde hatte er keine Ahnung davon. Er wusste nichts davon, wie es war, einen Menschen von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allem, was in einem ist, zu lieben.

Sicherlich war es so leichter. Er brauchte sich keine Gedanken zu machen, ob seine Liebepartnerin vor ihm sterben würde. Wie es wäre, ohne sie zu leben.

Mit einem Mal fragte er sich, warum er sich angewöhnt hatte, Liebe und Partnerschaft doch eher von der kritischen Seite zu betrachten.

Er begann in der Kiste zu suchen. Nach einer Weile fand er, was er gesucht hat. Es war eine Postkarte. Sie zeigte zwei in einander verschlungene Hände. Auf ihr Stand: Lieben heißt sein Ich in einem Du finden.

Sein Ich in einem Du finden, sagte der Prior nochmals vor sich hin.

Konnte es sein, dass seinem Ich doch etwas fehlte.