Der lachende Vogel XIX

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Als er am Morgen erwachte und auf den Wecker schaute, sah er das vergilbten Buch aufgeschlagen auf seinem Nachtisch liegen. Er hatte am Abend noch eine Weile in ihm weiter gelesen, bis ihn die Müdigkeit übermannte.

Beim Aufstehen fragte er sich, wie sich sein Leben im Auf und Ab bisher entfaltet hatte. Hatte er sich nicht durch seinen mehr oder weniger geregelten Alltag mit seinen festen Formen und Abläufen davor bewahrt, sein Leben ganz zu entfalten. Gehörte es auch zu seiner Bestimmung, sein Ich in der Verbundenheit zu einem liebenden Du zu finden.

War dies das, was diese Unruhe in ihm auslöste. Hatten die Lebensgeschichten, von denen er in den vergangen Tagen gehört hatte, ein ungeschriebenes Kapitel in ihm aufgeschlagen. Konkret verspürte er keine Sehnsucht nach einem Du. War das Bedürfnis dennoch so elementar, dass er ohne eine erfüllte Liebe nie inneren Frieden finden würde.

Fragen über Fragen. Es war gar nicht seine Art, sein Leben derart in Frage zu stellen. Er beschloss, seine Fragen, seine Gedanken erst einmal zurückzustellen.

Während des Morgengebets versuchte der Prior sich ganz auf die Andacht zu konzentrieren, merkte aber immer wieder, dass ihm dies nicht gelang. Seine Gedanken schweiften ab. Er war froh, in der Stille zu sein. So konnte er beim Morgengebet einfach dabei sein, ohne wirklich anwesend zu sein.

Ein Psalmvers holte ihn kurz aus seinen inneren Gedankengängen heraus:

Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist!“

Waren sein Gedankengänge so abwegig. Musste er Gott um einen neuen Geist bitten.

Vielleicht verbarg sich hinter der Einheit der Klostergemeinschaft doch mehr Einförmigkeit, als er bisher hatte sehen wollen.

Mehr noch, er hatte all die Jahre ein Leben in Konformität geführt. Wenn sein bisheriges Leben zu sehr von Konformität gekennzeichnet war, war es vielleicht an der Zeit jenseits der Konformität eine andere Facette seines Lebens zu entdecken.

Skeptisch verzog er das Gesicht. Zum Glück waren die Brüder zu sehr in der Andacht versunken, so dass die Entgleisung seiner Gesichtszüge keiner mitbekam.

Nach dem Frühstück zog sich der Prior auf sein Zimmer zurück. Er las weiter in dem vergilbten Buch. Beim Lesen spürte er in sich eine leichte Abwehrhaltung. Eigentlich sollte er dieses Buch beiseite legen. Er war durch und durch Theologe und brauchte sich von einem Psychoanalytiker nicht die Welt erklären zu lassen. Was über die Liebe in der Bibel stand, reichte ihm bisher, um den Besuchenden Rede und Antwort über das Wesen der Liebe zu stehen.

In Gedanken war er bei Paulus, dem Hohelied der Liebe und anderen Stellen. Wenn er diese Stellen bisher ins Gedächtnis gerufen hatte, so hatte er stets so etwas wie Frieden gespürt.

Im Augenblick war all dies ohne Wirkung, es schien eher so, als nehme seine Unruhe bei den Gedanken an die von ihm geschätzten Stellen der Bibel zu. Lag es nun an ihrer Aussage, oder war all dies nur ein Indiz dafür, dass es ihm persönlich doch an der Liebe fehlte.

Aber, gab es nicht andere, existentiellere Frage im Leben zu lösen, als die Frage nach einer erfüllten Liebe für sich zu beantworten.

Was sollte er mit solchen Sätzen anfangen:

„Die eigentliche und totale Antwort auf die existentielle Frage liegt in der zwischenmenschlichen Vereinigung, in der Vereinigung mit einem anderen Menschen, in der Liebe.“

Abrupt unterbrach er sein Lesen und legte das Buch bei Seite.

Ich sollte lieber in den Psalmen lesen, dachte er. Schließlich bin ich, in die Stille gegangen, um etwas von der mir gewohnten und eigenen Ruhe wiederzufinden.

Er war weit davon entfernt und im Begriff sich immer weiter mit einem Gedankenstrudel hinab in ein emotionales Loch zu katapultieren.

Etwas mürrisch stand er auf und verließ sein Zimmer. Er war froh, dass ihm auf dem Weg aus dem Klostergelände keiner der Brüder begegnete. Bis zum nächsten Gebet blieb noch Zeit. Bewegung schien ihm das Beste. Die frische Luft des Hochlandes würde alle schlechten Geister austreiben. Hoffte er.