Erfrischt im Geiste kam der Prior rechtzeitig vor dem Mittagsgebet zurück. Auf dem Weg in die Kapelle sprach er am Empfang Teresa an:
„Teresa, bist du so gut und suchst mir die Nummer von Marta Lucia heraus. Sie waren letztes Wochenende mit der Gemeinde hier.“
„Mache ich.“
„Kannst du dich noch an die an die Frau erinnern, deren Bruder zunächst entführt und später getötet wurde. Wie hieß sie noch?“
„Clara.“
„Erstaunlich, dein Gedächtnis.“
„So erstaunlich auch wieder nicht. Meine Nichte hat den gleichen Namen und darum ist er mir in Erinnerung geblieben.“
„Schau bitte nach, ob du ihre Telefonnummer findest. Ich muss sie anrufen.“
Teresa sah ihn fragend an. Der Prior bemerkte dies, verkniff sich aber die Nachfrage. Er wollte sich nicht erklären. Im Grunde wusste er selbst nicht, was er damit bezweckte.
„Du kannst mir die Nummern ins Fach legen. Danke schon mal für deine Mühe. Auf dich ist immer Verlass.“
Der Prior lächelte Teresa. Ein wenig übertrieben, dachte sie. Als er aus dem Blick verschwunden war, schüttelte sie leicht den Kopf. Was war mit dem Prior los. Seit einigen Tagen wirkte er fahrig. Es schien ihr, als sei er mit den Gedanken ganz wo anders. Und zudem, war der Prior nicht eigentlich in der Stille.
Am Nachmittag nahm der Prior sich Zeit, schon mal die Schriftstelle für das Abendgebet zu lesen. Länger dachte er über eine Stelle nach:
„Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“
„Na also“, sagte der Prior vor sich hin. So als wolle es sich selber aufmuntern.
Glauben hieß also doch, sich in gewisser Weise von der Welt zu lösen. Dies tat er ja täglich. Das Kloster und das Leben in ihm war zwar Teil der Welt, aber gleichzeitig auch nicht.
Was Menschen hier fanden war ja gerade etwas, was sie im täglichen Leben vergeblich suchten: Halt, Hoffnung, Orientierung und nicht zuletzt die Erfahrung von Transzendenz.
Wie nur, wenn er doch täglich Teil dieses Universum war, hatte die Unruhe dennoch in ihm Raum greifen können.
Erst jetzt fiel im wieder ein, dass er noch nicht in seinem Fach nachgeschaut hatte, ob Teresa Erfolg bei der Suche der Telefonnummern gehabt hatte.
Der Prior unterbrach seine Ausarbeitung und ging sogleich zum Empfang. Teresa war schon gegangen. Sie arbeitete nur halbtags. Die finanziellen Mittel des Klosters erlaubten es nicht mehr, sie ganze Tage anzustellen.
Er öffnete sein Fach und holte einen Zettel heraus. Er erkannte Teresas schwungvolle Schrift. Er fand die Telefonnummer von Marta Lucia, aber keine von der unbekannten Frau. Teresa hatte dazu notiert:
„Werde morgen weiterschauen. Bislang habe ich unter Clara nichts gefunden. Vielleicht können Sie sich an einen Nachnahmen erinnern, oder wann das ungefähr war. Das würde die Suche erleichtern. Bis Morgen. Gruß Teresa“
Der Prior ging zum Empfangstresen und nahm sich Zettel und Stift.
„Liebe Teresa, ich kann nur den Zeitpunkt ungefähr eingrenzen. Es müsste im Frühjahr vor drei Jahren gewesen sein. Du erinnerst dich vielleicht, in dem Frühjahr wurde der Empfang renoviert und neu gestaltet. Carmen hat sich damals nicht weiter vorgestellt. Und auf dem Zettel in meinem Fach stand auch nur der Vornamen und der Tag, an dem sie zu mir zum Gespräch kommen würde. Wenn du nichts finden solltest, ist es nicht weiter schlimm. Gruß Johannes.“
Insgeheim hoffte der Prior dennoch auf einen Erfolg bei der Suche.
Noch am Abend griff der Prior zum Telefon und rief Marta Lucia an.
„Guten Abend, Marta Lucia. Hier ist Bruder Johannes. Wie geht es Ihnen?“
„Bruder Johannes. Guten Abend. Mir geht es gut, danke. Ach, ich habe ganz vergessen Sie nochmals anzurufen. Alexandra ist wieder da. Sie war nur einige Tage bei einer Freundin untergetaucht. Sie hatte großen Liebeskummer und wollte mit uns darüber nicht sprechen.“
„Da bin ich ja beruhigt.“
„Nochmals, es tut mir sehr Leid, das ich mich nicht gemeldet habe. Sie hatten völlig Recht. Alexandra weiß, dass sie es gut bei uns hat und schätzt dies sehr. Sie brauchte einfach nur eine gute Freundin. Ist es nicht verrückt, wie sehr wir uns von unguten Gedanken leiten lassen.“
„Ja, sie nehmen manchmal dadurch überhand und nehmen uns all die Ruhe und die Gelassenheit, die wir zu Leben brauchen. Aber umgekehrt ist ja auch so. Sind wir gerade frisch verliebt, schweben wir über den Wolken und kein, oder besser gesagt, kaum etwas kann uns aus der Ruhe bringen.“
Der Prior musste sich selbst etwas über sein Beispiel wundern.
„Bruder Johannes, ich bin so froh, dass es Menschen wie sie gibt. Menschen die frei von allem für uns da sein können, wenn wir Sie brauchen. Und selbst dann, wenn wir egoistisch nur an uns denken, uns doch warmherzig verbunden bleiben.“
„Danke für das Kompliment. Es tut mir gerade besonders gut.“
„Sie sind herzlich eingeladen, uns mal zu besuchen. Dann können Sie auch Alexandra kennenlernen. Sie wird langsam eine junge Frau. Ich wünsche mit nichts mehr, als dass Sie wirklich eines Tages eine Familie gründen und ein glückliches Leben führen kann.“
„Danke für die Einladung. Grüßen Sie Alexandra von mir und sagen ihr einen lieben Gruß von mir. Sagen Sie ihr noch: Das Leben ist immer mehr als das, was ich mir heute vorstellen kann.“
„Gott sei Dank. Danke nochmals, dass Sie angerufen haben. Und nicht böse sein.“
„Ihnen noch einen schönen Abend. Gott segne Sie und ihre Lieben.“
Als der Prior auflegte, schreckte er innerlich zusammen. Es sah sich um. Zum Glück hatte ihn niemand beim telefonieren gesehen. Erst jetzt merkte er, dass er binnen weniger Stunden, ohne äußere Einwirkung sein Zeit der Stille gebrochen hatte.
Was war nur los mit ihm?