In der Nacht hatte der Prior wieder einen ungewöhnlichen Traum.
Er saß mit der Unbekannten in einem Café. Allem Anschein nach waren sie sehr vertraut bei einander. Sie unterhielten sich angeregt. Die Unbekannte saß ihm gegenüber und betrachtete ihn aufmerksam. Der Prior war verlegen. In Gedanken sagte er sich, dass es wohl besser wäre, nicht hier zu sein. Gleichzeitig genoss er jeden Augenblick. Irgendwann nahm er ihrer Hand. Die Gedanken in ihm begannen zu rasen. Neugierig wanderte sein Blick auf und ab. Er spürte ihre Wärme. Der Prior erwachte, als er im Begriff war, die Hand zu küssen.
Es war noch mitten in der Nacht und so schlief der Prior direkt wieder ein.
Am nächsten Morgen konnte sich der Prior nicht mehr an den Traum erinnern.
Aber auch ohne den Traum vor Augen, wanderten seine Gedanken zur unbekannten Frau. Was war das nur?
Der Prior war froh, weiter in der Stille zu sein, auch wenn er diese schon zwei Mal gebrochen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. War dies ein weiteres Zeichen für seinen angekratzten Gemütszustand. Irgendetwas schien aus der Kontrolle zu geraten.
Den Tag über las er weiter in dem vergilbten Buch. Etwas ging ihm dabei besonders nach: der beschriebene Drang des Menschen, sich mit dem anderen Geschlecht in Liebe zu vereinigen.
Er konnte von sich durchaus sagen, dass er diesen Drang ins sich kannte. Den Mitbrüdern, den Mitarbeitern und nicht zuletzt den Besuchern je auf eigene Weise Zeit, Verständnis, Trost, vor allem Liebe zu schenken, war eine tägliche Praxis. Dabei fühlte es sich befähigt und getragen durch die Liebe Gottes.
Gleichwohl fehlte ihm, einem in der Sexualität zu einer Frau völlig Unerfahrenen, jene Facette im Leben, die der Autor des vergilbten Buches eindrücklich und gewinnend beschrieb.
Sexualität mit Liebe zu verbinden und damit von der rein körperlichen Befriedung eines Bedürfnisses zu lösen, so als habe man einen Juckreiz und müsse sich kratzen, schien Ihm geboten. Mehr noch, er spürte, wie sich in ihm etwas rührte. Er begann sich in der Phantasie etwas auszumalen, was er bislang nie erlebt hatte.
Fast schon folgerichtig griff er in Ermangelung eines lebendigen Gegenübers zu jenem Trugbild, das ihn seit Tagen verfolgte, der unbekannten Frau. Wobei Trugbild nur die eine Seite ihrer Existenz beschrieb, seine Phantasie. Die Unbekannte hatte ja durchaus reale Züge.
Und plötzlich sah er – wie im nächtlichen Traum – die Unbekannte deutlich vor sich. Sie lächelte in an. Es war wie ein Geschenk. Er erwiderte es durch sein Lächeln. In ihm wuchs eine Art unbekanntes Verlangen. Ja, etwas, das der Autor des vergilbten Buches als Verlangen nach Vereinigung mit einem Du beschrieben hatte.
Wie war das möglich? Woher kamen solcherlei Gedankengänge?
Mit der Unbekannten verbanden ihn doch allein zwei seelsorgerlichen Gespräche, die er mit ihr geführt hatte. Persönlich waren sie sich auf einer anderen Ebene nicht begegnet. Oder?!
Der Prior las in dem aufgeschlagenen Buch weiter.
Plötzlich hielt er inne:
„Liebe ist die aktive Fürsorge und das Wachsen dessen, was wir lieben.“
Konnte es also sein, dass aus seiner aktiven Sorge um das Schicksal der Unbekannten – namentlich Unbekannten korrigierte er sich, denn völlig unbekannt war sie ihm ja nicht – mehr geworden war.
War dies vielleicht das tiefere Geheimnis einer Liebe, die über das eigene Ich hinausging. Stand am Anfang jeder wahren Liebe die Fürsorge, die bereit war dem Anderen das zu geben, was er für ihn lebensnotwendig war: Aufmerksamkeit, Verständnis und Zugewandtheit. Wuchs mit jeder Begegnung nicht nur der Grad des Wissens um den Anderen, sondern so etwas wie Verantwortung für den anderen. Verantwortung, die den Anderen nicht einfach wieder seinem Schicksal überlassen konnte.
Vielleicht ist es das, dachte er. Wahrscheinlich habe ich diese Unruhe in mir, weil ich eine Verantwortung in mir spüre. Ich will wissen, wie es der Unbekannten geht. Hören, dass es ihr gut geht und wenn nicht, Teil haben an dem, was ihr das Leben immer noch schwer macht.
Wenn das Liebe war, dann liebte er auf eine besondere Weise diese Unbekannte.