Der lachende Vogel XXII

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Für das Wochenende hatte sich niemand zu einem Gespräch bei Prior Johannes angemeldet. Ein Grund mehr seine Tage der Stille zu verlängern. Er sprach dies mit Bruder Georg ab. Dieser war damit einverstanden.

Dem Prior war nicht nach Reden zu Mute. Seine Zeit der Stille war dieses Mal gleichzeitig mehr als das kontemplative Schweigen, das er sonst praktizierte. Er hoffte nicht, in der Stille Gott zu begegnen.

Der Prior war auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach etwas Verborgenen, einer Seite in ihm, die ihm noch völlig unbekannt schien und doch zu vage, als das er bewusst nach ihr hätte Ausschau halten können.

So ließ der Prior sich absichtslos durch den folgenden Tag treiben. Er hielt wie gewohnt die Gebetszeiten ein, aß mit den Brüdern und zog sich ansonsten auf sein Zimmer zurück, oder machte einen Spaziergang.

„Der reife Mensch ist schließlich an jenem Punkt angelangt, an dem er sozusagen zu seiner eigenen Mutter und zu seinem Vater wird.“

Diesen Satz aus dem vergilbten Buch las der Prior immer und immer wieder.

Konnte er von sich sagen, dass er im Laufe des Heranwachsens Vater und Mutter in sich aufgenommen hatte – als väterliches und mütterliches Gewissen, wie der Autor dies ausführte, als Sein zwischen Vernunft und Liebe.

Der Prior versuchte sich an seine Eltern zu erinnern. Im Grunde war nichts Außergewöhnliches an ihnen gewesen. Seine Mutter war die meiste Zeit seiner Kindheit alleine mit ihm und seinen Geschwistern gewesen. Sein Vater war oft auf Montage und ganze Wochen nicht zu Hause. Häufig hatte er den Eindruck gewonnen, seine Mutter sei mit der Aufgabe, vier Kinder großzuziehen, überfordert gewesen. Sein Vater war, selbst wenn er zu Hause war, im Grunde nicht anwesend.

Hatte es ihm an Liebe gefehlt?

Bei dieser Frage erhob sich der Prior und trat ans Fenster.

Die Sonne schien und tauchte den Garten des Klosters in eine Lichtstimmung, die er so sehr liebte. Die Bougainville entlang der Klostermauer leuchtete in ihrem prächtigen Rot. Er liebte diese sogenannte Drillingsblume mit ihren drei Blüten und drei großen, auffällig gefärbten Blättern.

Der Prior spürte beim Gedanken an seine Eltern eine angenehme Wärme in sich aufsteigen. Seine Eltern hatten das gegeben, was ihnen möglich gewesen war.

Hatte er dennoch etwas entbehrt?

Als er Mönch wurde, was hatte er gesucht?

War er als reifer Mensch in das Kloster eingetreten, oder hatte er im Laufe der Jahre an Reife gewonnen?

Vielleicht steckte hinter dem Entschluss, Ordensbruder zu werden doch mehr, als er sich bisher eingestanden hatte.

Der Klosteralltag hatte ihm von Anfang an einen sicheren und verlässlichen Rahmen geboten. Im Glauben fand er Geborgenheit und Halt. Zum ersten Mal bekam er ein Gefühl für seine eigene Person. Er fühlte sich von Gott geliebt und angenommen.

Sich vorzustellen, sein Glück könne auch anderswo liegen, verlor sich im Laufe der Jahre. Es stellte sich das ein, was andere manchmal mit Gewohnheit bezeichnen und im Grunde damit aber etwas Negatives meinen.

War er nun dabei mit Gewohnheiten zu brechen?