Der lachende Vogel XXIII

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Hatte die Macht der Gewohnheiten aus ihm jenen Mann werden lassen, der er heute war, fragte sich der Prior, als er das Morgengebet mit dem Schma Israel auf den Lippen verließ.

Höre, Jisrael! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig!“

Dieser für das Judentum zentrale Stelle des Glaubens an den einen Gott war man bis heute treu geblieben. Es gab trotz unsäglicher Erfahrungen in der Geschichte, keinen Grund daran zu zweifeln.

Auch eine Gewohnheit, eine gute, dachte der Prior.

Mit guten Gewohnheiten sollte man nicht brechen. Der eigener Glauben gehörte zu diesen.

Aber gab es nicht auch Facetten in einem Leben, die unausgelebt blieben. Facetten der eigenen Persönlichkeit, die trotz bester Gewohnheiten, ein kümmerliches oder kein Dasein fristeten. Sie wurden, weil unbeachtet, nie zu einer Gewohnheit.

Gewisse Teile seines Ichs nicht ausgelebt zu haben, sollte ihm keine Panik bereiten, sagte ein Stimme in ihm. Die Sinnhaftigkeit seines Lebens maß sich nicht daran, ob er am Ende würde sagen können: Ich habe alles erlebt, was man erleben kann.

Wie sollte er mit etwas umgehen, was bislang keine Rolle in seinem Leben gespielt hatte, nun aber in ihm aufstieg. Gab es Grund und Anlass, aus lauter Zufriedenheit davon Abstand zu halten? Was glaubte er zu finden?

Über die zurückliegenden Jahre war er zufrieden mit seinem Leben gewesen. Es gab nichts, was diese Genügsamkeit in Frage stellte.

Der Prior hatte sich auf die Bank vor dem Seminargebäude gesetzt und genoss Morgensonne.

Es gab Dinge, die wert waren ein Leben lang wiederholt zu werden. Das Sitzen in der Sonne gehörte zu ihnen.

Gleichwohl – und dies war ein immer wiederkehrende Thema bei Gesprächen mit Besuchern gewesen – gesellten sich manchmal fast zufällig neue andere Gewohnheiten dazu. Neugierig oder bestimmt griff zu ihnen, weil eine alte Gewohnheiten an Wirkung verloren hatte.

Zu einer amüsanten Gewohnheit war es ihm geworden, mit dem lachenden Vogel zu sprechen. Zufällig war diese kleine Kreatur in sein Leben getreten und war nun ein Teil von ihm.

Eigentlich hatte er in den letzten Tagen seiner Klausur gehofft, den lachenden Vogel wiederzusehen. Bisher hatte er sich nicht gezeigt. Wie auch, war er es doch, der ihn zu Tagen der Stille animiert hatte.

Ihm war der lachende Vogel in den zurückliegenden Wochen so vertraut geworden, dass er ihn jetzt gerade herbeisehnte.

Die Sonne verschwand hinter einer großen Kumuluswolke. Eine leichte Brise kam auf. Für einen Augenblick fröstelte es den Prior.

Rein intuitiv, als ahne der Prior etwas, wandte er sich um. Er sah den lachenden Vogel herangleiten. Er nahm auf der Bank neben ihm Platz.

Seine dunkel brauen Augen sahen ihn vielsagend an.

Der Prior war im Begriff den lachenden Vogel anzusprechen, hielt jedoch inne. Ihm war, als ob er ihm durch die Andeutung einer Kopfbewegung zu verstehen gab, dass er schweigen solle.

Nach einer Weile breitete der lachende Vogel seine Flügel aus, erhob sich und flog in Richtung Kapelle. Er um kreiste die Zinne und schraubte sich dann spiralförmig in den Himmel. Irgendwann war er kaum noch zu sehen, ein kleiner Punkt in der Ferne.

Es dauerte eine ganze Weile bis der lachende Vogel wiederkam, eine letzte Runde im Klostergarten drehte und sich wieder neben ihm niederließ.

Der lachende Vogel war schon längst wieder davongeflogen, da begrifft der Prior: Dieses kauzige Wesen hatte ohne mit ihm zu reden, doch mit gesprochen.