Im Nachhinein wusste Prior Johannes nicht mehr so recht, was in den kommenden Wochen geschah. Die Ereignisse hatten sich offensichtlich überschlagen. Es kam selbst im Rückblick so vor, als sei ein Orkan über sein behütete Existenz gefegt.
Alles begann mit dem Telefonat. Etwas verlegen griff er zu dem Hörer. Teresa hatte den Kontakt hergestellt. Am anderen Ende erkannte er die Stimme der Unbekannten auf Anhieb. Sie sprach jenen unverkennbaren Akzent der Küstenbewohner, an den er sich gut erinnerte.
„Guten Morgen“, hörte er am Ende der Leitung.
„Guten Morgen“, erwiderte der Prior den Gruß.
„Ich spreche mit Frau Mondragon.“
„Ja, hier ist Clara Mondragon.“
„Und hier ist Prior Johannes… erinnern Sie sich.“
„Wie könnte ich Sie vergessen, Prior Johannes. Es ist zwar schon einige Zeit her, dass ich bei ihnen war, aber die Gespräche mit Ihnen sind mir in Erinnerung geblieben. Es ist, als seien sie gestern gewesen.“
„Ach, ja?!“
„Natürlich. Ihre Worte haben mich damals schwer getroffen. Hätte Sie damals nicht diesen gütigen Blick gehabt… Ich weiß nicht, wozu ich fähig gewesen wäre.“
„Fähig?“
„Sagen Sie nur nicht, Sie wüssten nicht mehr, was Sie damals von mir verlangt haben. Ich war voller Schmerz und Sie sprachen davon, dass Gott auch Mördern gnädig sei. Dies war eine Zumutung und Sie konnte damals froh sein, dass ich …“
Clara Mondragon unterbrach ihren Redefluss. Offensichtlich hatte sie begriffen, was sie zu sagen im Begriff war.
„Ach, lassen wir das… Es ist lange her und ich denke heute anders.“
„Frau Mondragon, ich bin zufällig Morgen in der Stadt und würde mich freuen, wenn ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen könnte. Ich bin gerade gedanklich mit dem Friedensprozess beschäftigt und würde gerne nochmals Ihre Meinung dazu hören… aber nicht am Telefon.“
„Morgen am späten Vormittag hätte ich Zeit. Wann und wo?“
„Ich schlage das Café Estrella in der Dreiundsiebzigsten mit der Elften vor. Wie wäre es gegen 11:30 Uhr?“
„Sehr gut. Ich freue mich, Sie Morgen wiederzusehen.“
Als der Prior aufgelegt hatte, war er erstaunt über seinen letzten Satz. Er konnte sich nicht erinnern, in den letzten Jahren jemanden Vergleichbares gesagt zu haben.
Am Abend beim Zubettgehen stand er noch länger vor dem Spiegel. Er sah sich mit einem prüfenden Blick an. Ein fast ergrauter Kopf sah ihn an. Er musste lachen.
Es war, wie es war, dachte er. Etwas unruhig ging er zu Bett.
In der Nacht wachte er von einer kurzen, aber wohl heftigen Traumsequenz auf. Vor seinem inneren Auge sah er, wie sich jemand ruckartig von ihm abwandte. Ein Arm wurde nach hinter geworfen, so als wolle jemand unter allen Umständen verhindern, dass man ihm folgte.
Der Prior brauchte einige Minuten, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Immer wieder musste er tief nach Luft schnappen, wie ein vom Ersticken Bedrohter. Ohne es bewusst zu merken, war er auf den kleinen Balkon getreten. Erst als er zu frieren begann, wurde ihm klar, wo er sich befand.
Noch eine Weile lag er wach im Bett und fragte sich, wer diese Person war, die sich abrupt von ihm abgewandt hatte. Es war es ganz und gar nicht gewohnt, dass Menschen dies taten. In der Regel gab es auch keinen Anlass dazu. Er stellte nun wirklich für niemanden eine Bedrohung dar.