Der lachende Vogel II,III

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Als der Prior das Café Estrella betrat, schaute er sich etwas verlegen um. Clara Mondragon war noch nicht da. Er selbst war ja auch fast eine Viertelstunde zu früh da.

Der Prior nahm in einer kleinen Nische Platz. Von dort hatte er den Eingang des Cafés gut ihm Blick. Eine Bedienung kam auf ihn zu.

„Was kann ich Ihnen bringen, mein Herr?“

„Bringen Sie mir bitte einen Cappuccino.“

„Gerne. Darf es sonst noch etwas sein?“

„Nein, für den Augenblick nicht.“

Während der Prior auf den Cappuccino wartete, sah er angespannt in Richtung Eingang. Anders als sonst hatte er heute kein Interesse an den anderen Gästen des Kaffees. Er war gespannt, ob er Clara Mondragon wiedererkennen würde.

Als schon längst seinen Cappuccino ausgetrunken hatte und in Gedanken mit dem Löffel die letzten Reste der aufgeschäumten Milch vom Tassenrand abschabte, wurde er unruhig.

Er sah auf die Uhr. Es war schon fast Mittag. Leise Zweifel kam in ihm hoch.

In Gedanken fragte er sich, was sie daran gehindert haben konnte zu kommen. Er verwarf alles und sagte sich: Stau, nicht mehr, eine der täglichen Einschränkungen, mit denen alle Bewohner der großen Stadt zu leben hatten.

„Prior Johannes“, hörte er plötzlich eine Frauenstimme sagen.

Etwas erschrocken, sah der Prior auf. Er erkannte Clara Mondragon an ihrem freundlichen Lächeln. Sie sah ihn gleichsam etwas fragend an.

„Entschuldigen Sie“, setzte sie gleich fort, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen.

„Ich steckte im Stau… Sie wissen doch. Fast die gesamte Stadt ist übersät mit unzähligen Karawanen aus Blech. Ich bin froh, dass es heute nicht noch regnet, denn dann hätte ich noch länger gebraucht.“

„Macht nichts“, antwortete der Prior.

Der Prior stand auf und reichte ihr die Hand.

„Ich freue mich, Sie wieder zu sehen. Seien Sie gegrüßt. Wie geht es Ihnen?“

„Danke, gut. Es ist mir auch eine Freude Sie wiederzusehen.“

„Bitte, nehmen Sie doch Platz. Was darf ich für Sie bestellen?“

„Einen Kräutertee, dass wäre jetzt gut.“

Der Prior sah sich nach der Bedienung um. Als er sie erblickte, hob er leicht die rechte Hand.

„Bitte einen Kräutertee und noch einen Cappuccino.“

„Gerne. Kann ich der Dame noch etwas bringen?“

„Nein, danke.“

Der Prior sah Clara Mondragon an und versuchte dabei so unauffällig wie möglich zu wirken. Sie trug ein Kleid in einem dezenten Anthrazit und darüber eine fliederfarbene Strickjacke.

„Wie ist es Ihnen seit unserem letzten Gespräch ergangen?“

„Gut.“

Der Prior nahm einen leichte Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck war, so als verdunkle ein Schatten für einen Augenblick ihren freundlichen Blick.

„Sicher!?“

Clara Mondragon antwortete nicht sogleich. Sie schien zu überlegen.

„Lieber Prior, Ihnen kann man doch nichts vormachen. Darum will ich ehrlich sein. Mir ging es auch nach dem letzten Gespräch noch lange sehr schlecht. Viele Monate versank ich im Selbstmitleid. Hatte keinen Elan, zu nichts und gar nichts. Ich kam morgens kaum aus dem Bett. Familie und Freunde waren dabei zu verzweifeln. Die Wende kam, als ich mir klar darüber wurde, dass ich es selbst in der Hand hatte, meine traumatische Erfahrung zum Mittelpunkt meines zukünftigen Lebens zu machen.“

Sie machte eine Pause und trank einen Schluck Tee.

„Es war an einem der für unser Land typischen Morgende, wenn die Morgensonne schon um Sieben ihre ungeheure Kraft entwickelt. An diesem Morgen hatte ich Ihre Worte deutlich im Ohr und habe gespürt, dass es an mir war, meinem Leben eine andere Wendung zu geben. Ich konnte nur inneren Frieden finden, wenn ich den Mördern meines Bruders nicht nur in Gedanken vergab. So versuchte ich darum eine zeitlang die Mörder meines Bruders ausfindig zu machen. Vergeblich, das hätte mir klar sein sollen. Rückwirkend betrachtet war diese Zeit ungeheuer wichtig für mich. In mir wuchs mit jedem Tag der Suche die Bereitschaft, den Mördern wirklich zu vergeben – und zwar von Angesicht zu Angesicht. Dass es nicht dazu kam, war am Ende, als ich nach gut einem Jahr die Suche einstellte, zweitrangig geworden. Seit dieser Zeit habe ich meine Frieden wiedergefunden und freue mich über jeden Tag meines Leben. Und sollte ich den Mördern meines Bruders eines Tages begegnen, wäre ich bereit, Ihnen die Hand zur Versöhnung zu reichen.“

Der Prior hatte aufmerksam zugehört. Er schien sehr bewegt von ihren Worten.

„Mir fehlen ehrlich gesagt die Worte.“

Die Stimme des Priors war ungewohnt brüchig.

„Wissen Sie durch Zufall – wenn es diese überhaupt gibt – bin ich an ein altes Buch geraten. Es ist über dreißig Jahre her, dass ich es das letzte Mal in der Hand hatte. Dort las ich Folgendes: „Erst in der Liebe zu jenen, die meinen Zwecken nicht dienen können, beginnt sich die Liebe zu entfalten.“ In der Bibel heißt es: „Liebet euer Feinde!“ Wie oft habe ich darüber eine Andacht gehalten, wie oft habe ich jene Worte Jesu zitiert, ohne wirklich die Tiefe dieser Worte ermessen zu können. Bei Ihren Worten habe ich heute zum ersten Mal eine Ahnung von ihrer Bedeutung erahnt. Eigenartig…“

„Ja, es ist wie ein Wunder, wie sich Hass verwandeln kann. Ich hätte dies nie für möglich gehalten.“

„Die vielleicht extremsten menschlichen Empfindungen, die doch zusammengehören.“