Der lachende Vogel II,V

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Der Prior kam langsam wieder zu Atem. Es hatte am Nachmittag noch nicht geregnet und die Sonne stand immer noch am fast wolkenlosen Himmel. Selbst im Schatten war es angenehm warm. Plötzlich lies ihn eine Stimme von hinten erschrecken.

„Bruder Johannes, da ist ein Anruf für dich. Ich bin zufällig an der Rezeption vorbeigekommen, als das Telefon klingelte.“

Bruder Georg sah den Prior freundlich lächelnd an.

„Danke.“

Dies war alles, was dem Prior an Worten entwich. Schon merkwürdig dachte er über sich selbst, als er zur Rezeption eilte.

Wer konnte das nur sein. Üblicherweise kamen die Telefonate nur an Vormittagen an, wenn Teresa Dienst hatte.

„Prior Johannes, wer ist da bitte.“

„Guten Tag, hier ist Clara Mondragon. Entschuldigen Sie, dass ich sie störe. Ich habe den Eindruck, mich nicht ganz… wie soll ich sagen… angemessen verhalten zu haben.“

„Angemessen?“

Der Prior hatte seine Sprache immer noch nicht wiedergefunden.

„Ja, irgendwie habe ich den Eindruck, dass ich durch mein Verhalten dazu beigetragen habe, dass Sie abrupt das Café verlassen haben.“

„Verhalten.“

„Sie wissen schon, als Sie meine Hand nehmen wollten, da habe ich sie sofort zurückgezogen.“

Eine kurze Pause entspannt, in der wohl beide über den Fortgang des Gespräches nachdachten. Der Prior ergriff als erster wieder das Wort.

„Eigentlich wollte ich nur kurz Ihre Hand drücken… als eine Art Zustimmung, oder Verbundenheit, die ich spürte, als Sie über die Verwandlung von Hass in Liebe sprachen. Ich fühlte mich Ihnen in diesem Moment nahe. Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht…“

Der Prior fand keine passende Beschreibung dessen, was er sagen wollte.

„Ich habe ähnlich empfunden. Aber plötzlich stand ich wie neben mir. Sah mich mit Ihnen, einem Ordensbruder, in einem Café sitzen. Ich dachte die ganze Zeit, während wird sprachen darüber nach, was wohl die anderen Gäste denken mussten. Es ist doch keine alltägliche Situation, dass sich eine Frau mit einem Prior im Café trifft.“

„Ganz uns gar nicht.“

Für Augenblicke war es still.

„Frau Mondragon, sind Sie noch dran?“

„Ja.“

„Was halten Sie davon, wenn wir unser Gespräch Morgennachmittag hier im Kloster fortsetzen.“

„Gerne.“

„Um 15.00 Uhr.“

„Ich werde da sein.“

Das Gespräch war längst beendet. Der Prior hielt immer noch den Hörer in der rechten Hand.

Bruder Georg betrat den Empfang. Er war im Begriff, nach Post in seinem Fach zu schauen, als er den vor sich starrenden Prior sah.

„Schlimme Nachrichten?!“

Der Prior sah auf, erkannte Bruder Georg.

„Nein, nein.“

„Wirklich?!“

Fast schon herausfordernd machte Bruder Georg eine Kopfbewegung.

Erst jetzt merkte der Prior, dass er den Hörer noch nicht aufgelegt hatte.

„Ach, ich muss in Gedanken gewesen sein, mein Lieber.“

„So, so. In Gedanken! Komm schon Johannes, sag, was dich umtreibt! Seid Tagen wirkst etwas abwesend. In den Gebetsstunden hast du wiederholt fast deinen Einsatz verpasst.“

„Ich bin etwas erschöpft. Die letzten Nächte habe ich nicht so gut geschlafen.“

„Johannes, wie lange kennen wir uns schon?“

„Fast dreißig Jahre. Du kamst kurze Zeit nach mir zu uns.“

„Und darum kenne ich dich etwas besser. Nun sag endlich, was dich beschäftigt!“

„Du hast Recht. Da ist etwas… aber im Augenblick kann ich nicht darüber sprechen. Ich komme zu dir, wenn es soweit ist. Ganz sicher.“

„Gut, dann werde ich dich nicht weiter löchern.“

Die tiefstehende Nachmittagssonne verbreitete ein angenehmes Licht, als der Prior wenig später die Kapelle betrat. Er nahm in einer der hinteren Reihen Platz.

Hier hatte er einen festen Platz. Bisweilen saß er dort. Mit etwas Abstand, einige Reihen zwischen sich, schaute er vor sich. Die Perspektive war eine andere von hier.

Den Dingen und auch dem Glauben mit etwas Abstand zu begegnen fiel ihm von hier leichter. Es tat gut, sich bisweilen in einen der Nachbarbauern zu versetzen, die hier während der Messe am Sonntagmorgen – vielleicht sogar an gleicher Stelle – über ihre Alltagssorgen nachdachten.

Der Prior ging den Ereignissen des Tages nach.

Während er versuchte, sich das Gespräch mit Clara Mondragon nochmals ins Gedächtnis zu rufen, erschien ein Satz aus dem vergilbten Buch vor seinem inneren Auge.

Es war ein Zitat des großen Meister Eckehart:

„Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb.

Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hasst als dich selbst,

so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb gewonnen, –

wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst,

in einem Menschen alle Menschen.“

 

Über das Thema Selbstliebe hatte er nie so recht nachgedacht. Gehörte zu seiner Berufung doch eher die Selbstlosigkeit. Wirklich, dachte der Prior zum ersten Mal in seinem Leben.