Der lachende Vogel II,VII

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In der folgenden Nacht schlief der Prior unruhig. Gegen Morgen erschienen ihm im Traum eine Anzahl verschiedener Gestalten. Sie waren offensichtlich im Gespräch und führten eine erregte Debatte.

Eigenständigkeit: Meine Lieben, lasst uns anders werden als die vielen, die nur dort sein können, wo man sie hinschickt. Es ist an der Zeit, an sich zu denken.

Selbstvergessenheit: Vergiss dein Ich. Es ist nichts wert, wenn du alleine bleibst. Ich brauche Geborgenheit.

Nachhaltigkeit: Sie an, wie vermessen ihr doch seid. Könnt ihr sagen, dass das Eure von Dauer ist. Ich ziehe vor, nach dem zu streben, was Bestand hat.

Wechselfreudigkeit: Oh graus. Wie kann man zum Stein erstarren wollen. Das Leben ist doch viel zu bunt und farbenreich. Gerne bin heute hier und morgen dort.

Nachhaltigkeit: Du hast wohl Angst, dich auf etwas ganz einzulassen, scheust die Tiefe.

Wechselfreudigkeit: Ganz und gar nicht. Tiefe erlebe ich in jedem Augenblick. Was will ich mehr.

Eigenständigkeit: Woher wollt ihr wissen, was für euch gut ist, wenn ihr nicht zuerst einmal ganz bei euch seid.

Selbstvergessenheit: … oder erfahrt, wie wunderbar es sein kann, in jemand anderem ganz und gar aufzugehen.

Eigenständigkeit: Nein, bloß nicht. Was du Geborgenheit nennst, nenne ich: Anpassung. Ich will mich finden, nicht verlieren.

Nachhaltigkeit: Finden? Wie soll etwas von Dauer sein, wenn du ständig nur auf dich schaust. Du musst bereit sein einem Höheren Ziel zu folgen.

Eigenständigkeit: Und das wäre?

Nachhaltigkeit: Du allein bist unwichtig. Wichtig ist der Fortbestand der Dinge, das, was immer schon war und künftig bleiben wird. Die Frage darf nicht sein „Was kann noch sein?“, sondern „Was bleibt“?

Wechselfreudigkeit: Mir schwindelt. Was für Aussichten?! Du vergisst, dass alles im Werden ist. Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt. Alles hat sich seit Anbeginn fortentwickelt. Dies zu unterbinden wäre das Ende.

Selbstvergessenheit: Es gibt dennoch Konstanten im Leben, die wir nicht selbst schaffen. Dinge, die wir vorfinden. Und das ist gut so. Ich finde das eine große Entlastung.

Eigenständigkeit: Konstant bleiben darf bestenfalls, was mir nützt. Ich befürchte du lässt dich im Zweifel von anderen manipulieren.

Selbstvergessenheit: Ich glaube an das Gute. Warum sollte ich solchen Argwohn hegen?

Wechselfreudigkeit: Weil nichts bleibt, wie es ist? Alles vergeht und darum: Sei wachsam und orientiere dich frühzeitig um. Wenn du nicht flexibel bleibst, wirst du auf der Strecke bleiben. „Jedem Anfang…

Nachhaltigkeit: … wohnt ein Zauber inne.“ Davon habe ich gehört, es aber sogleich verworfen. Wie kann man es wagen, Sicherheit aufs Spiel zu setzen?

Eigenständigkeit: Sicherheit? Welche Sicherheit gibt es? Doch nur die eine, das ich ICH bin.

Wechselfreudigkeit: … und das sich alles wandelt.

Selbstvergessenheit: … und wir im Grunde nicht unterscheiden können, wo das Ich beginnt und das Wir anfängt.

Nachhaltigkeit: … und das doch alles beim Alten bleibt.

Gelassenheit: Eine ganze Weile habe ich euch nun zugehört. Ich kann nicht sagen, wem ich zustimmen soll. Was gut und hilfreich erscheint, kann sich doch im nächsten Augenblick ins Gegenteil verkehren. Alles hat seine Zeit. Ich meine Zeit, nicht Dauer. Alles ist gleichzeitig im Wandel, weil die Dinge sich verändern. Manchmal scheint es wichtig, sich auf sich zu besinnen. Auch hier meine ich nicht Egoismus. Bei sich zu sein, kann den Blick für andere wieder öffnen. Schließlich heißt Leben, mit anderen zu leben. Wie will ich mich finden, ohne ein Gegenüber. Die Kunst, so scheint mir liegt wohl darin, allem seine Zeit zu geben.

 

Ohne sich an Details zu erinnern, hatte der Prior am nächsten Morgen den Eindruck, etwas habe sich in ihm bewegt.