Nach Abendgebet und Abendessen kam Bruder Georg nochmals vorbei. Der Prior war noch beim Essen.
„Ich kann dir nichts mehr anbieten, mein Lieber, habe gerade den letzten Bissen zu mir genommen“, begrüßte der Prior ihn sichtlich erfreut.
„Mach dir keine Gedanken. Ich habe ausreichend zu Abend gegessen.“
„War führt dich nochmals zu dir. Du willst mir doch nicht zu verstehen geben, unser Gespräch von vorhin hätte dich zum Nachdenken gebracht?“
„Irgendwie schon.“
„Lass hören.“
„Seitdem ich dich vorhin verließ habe ich mich fast unablässig zweierlei gefragt: Zum Einen, was dich im Augenblick bewogen haben könnte, dir derartige Frage zu stellen. Und zum Anderen habe ich mich selbst gefragt, wie es bei mir vor vielen Jahren zum Entschluss gekommen ist Bruder zu werden.“
„Und hast du eine Antwort auf die zweite Frage?“
„Mein Entschluss in eine Klostergemeinschaft einzutreten entsprang damals dem tiefen Wunsch, mein Leben ganz in den Dienst Gottes zu stellen. Bis heute habe ich es nicht als Abkehr oder gar Flucht vor der Welt gesehen.“
„Bis heute?“
„Nein, immer noch. Und doch hat mich unser Gespräch irgendwie berührt. Damit hast du wohl deine Absicht erreicht.“
„Du glaubst also, ich hätte mit meinen Worten eine tiefere Absicht verfolgt?“
„Irgendwie schon. Auch wenn die erste Frage damit nicht beantwortet ist, glaube ich, dass du ganz bewusst deine Worte wählst und hinter konkreten Situationen gleichzeitig immer dem allgemein Gültigen auf der Spur bist.“
„Dem allgemein Gültigen, so, so.“
Der Prior musste schmunzeln. Es freute ihn, dass er Bruder Georg zum Nachdenken gebracht hatte. Dies gelang ihm nicht oft.
„Sehe ich in deinen Augen so Etwas wie Triumpf?“
„Du weißt recht wohl, dass ich mir daraus nichts mache. Ich freue mich nur, dass du deine klare Position zu überdenken scheinst.“
„Ich fange an… will sagen, die Gedanken kreisen. Im Augenblick weiß ich noch nicht, wohin sie mich bringen werden.“
„Lass dir Zeit. Ich habe für heute nichts Weiteres vor.“
„Ich bin erleichtert. Ich hatte schon befürchtet, ich müsste mich allein meinen Gedankengängen aussetzen.“
„Nun denn, lass uns fortfahren.“
„Johannes, ich bin im Augenblick nicht so sehr bei der Frage nach Liebe und Partnerschaft wie du. Ich frage mich vielmehr: Was lässt uns letztendlich zu dem werden, was wir heute sind. Wir werden in eine Familie hineingeboren, wachsen auf in ihr auf, manchen unsere Erfahrungen, die uns mit jedem Tag vorantreiben, wie ein Stück Treibholz.“
„Treibholz?“
„Sind wir nicht Getriebene unserer Zeit. Wir sind Kinder einer Zeit in die wir hineingeboren wurden, Kinder einer Epoche, Kinder eines Kontinents und einer Heimat, Kinder einer Geistes- und Religionsgeschichte. All dies wird nie umfassend beschreiben können, wer wir sind. Und doch hat uns alles wesentlich zu den Personen werden lassen, die wir heute sind.“
Bruder Johannes schien nachzudenken. Der Prior ließ ihn.
„Und ich denke, dass bei alledem die Familie wohl der bedeutendste Zusammenhang ist. Sie ist die Urzelle unseres Seins hier auf Erden. Sie hat uns einst ins Leben gerufen, ließ heranwachsen, hat gefördert, verhindert, hat Weichen gestellt für so vieles im weiteren Leben. Viele Versuche bis hin in unser Alter, sich manchem Unguten zu entledigen, sind nicht mehr als Kampf, ein Kampf ohne rechten Sieger.“
„Das Leben hinterlässt tiefe Spuren in unseren Seelen.“
„Und darum, wie frei werden wir uns wirklich je nennen können. Im Grunde bleiben wir ein Stück Treibholz, das auf dem Fluss des Lebens zwischendurch hofft, irgendwo zu stranden.“
„Dieses Stranden ist für viele Menschen die Beziehung zu einem Gegenüber. Sie wollen Halt und Geborgenheit in einem Du finden.“
„Und finden doch nie letzte Erfüllung.“
„Georg, warum so pessimistisch?“
„Weil das Leben nicht hält, was es verspricht. Wie auch.“
„Wir sind aber frei uns immer wieder neu auf den Weg zu machen. Altes, Überkommenes hinter zu lassen.“
„Frei! Wären wir wirklich frei, würden wir uns als Freie begegnen und zusammenschließen. Ist es nicht so, dass wir lange den Gewohnheiten unseres Gewordenseins folgen und spät, manchmal viel zu spät merken, wo es uns hingebracht hat. Wir werden eines Morgens wach, schauen uns um und sind allein. Dieses Getriebensein kann ich nicht Freiheit nennen. Es ist eine Fessel, die wir auch in einer Beziehung nie ablegen werden… und am Ende jede Beziehung in Frage stellt.“
„ Und darum glaubst du, dass es besser ist, allein zu sein als zu zweien?“
„So denke ich, Johannes. Und bis heute habe ich keinen Grunde gesehen daran zu zweifeln.“
„Aber?!“
„Kein Aber… eher eine romantische Anwandlung, es könnte doch möglich sein. Schließlich gehen wir bei unseren Trauungen auch vom Besten aus.“
„Dann geh deiner emotionalen Anwandlung, wie du sie nennst, doch nach, wohin führt sie dich? Mich bringt sie an den Punkt, an dem ich seit Tagen bin, ob die Zweisamkeit bei allen Beschränkungen, die aus welchen Gründen auferlegt ist, doch eine erstrebenswerte Lebensform ist. Und, ob wir beide an einer markanten Stelle unseres Lebens nicht zu feige waren, uns auf dieses Abendteuer einzulassen“
„Feige?! Ich würde mich eher weise nennen, ohne überheblich wirken zu wollen. Mit etwas Weitsicht muss ich mich doch nicht sehenden Auges in mein Unglück stürzen.“
„Wenn es doch anders als erwartet käme. Damit meine ich nicht, dass für uns beide irgendwann die Richtige, die Eine gekommen wäre. Ob es diese Person wirklich gibt, diese Frage möchte ich einmal zurückstellen. Aber, wenn wir schon Getriebene unseres Gewordenseins sind, macht es in meinen Augen keinen Sinn, uns auf Zukunft hin zusätzlich zu beschränken. Die Zukunft, genauer jeder Tag als Hier uns Jetzt will doch trotz aller Beschränkungen ergriffen werden. Darin sehe ich Freiheit. Wir könnten keine jungen Paare trauen, wenn wir nicht an sie glauben würden.“
„Ja, und doch ich bleibe dabei: Nur wenn wir mit uns im Reinen wären, uns weitgehend erkannt hätten, wüssten woher wir kommen, was uns so oder anders hat werden lassen, erst dann könnten wir vielleicht hoffen, das Wagnis einer Beziehung einzugehen.“
„Dann wohl an!“
„Was redest du?“
„Nun ja, als Männer im reifen Alter mit so viel Einsicht in das Leben und Selbsterkenntnis sind wir gerade im rechten Alter, um das Wagnis einzugehen.“