Der lachende Vogel II,XII

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Der Prior fand am Abend keinen Schlaf. Er knipste die Nachtischlampe an, griff zum Stundenbuch und las die Schriftlesung des Abends:

„Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es auch.“

Was für eine Aussage, dachte der Prior. Was für ein bedingungsloser Zuspruch Gottes: Du bist mein Kind! Ich habe dich ins Leben gerufen, ich weiß um dich und werde dich nie aus der Hand geben.

In seinem zurückliegenden Leben hatte er sich häufig in schweren Zeiten daran festgehalten. Auf Gottes Treue war Verlass. Ganz anders als die, die sich Menschen schworen oder versprachen.

Mit acht Jahren hatte er erleben müssen, wie er, als er eines Tages von der Schule nach Hause kam, die Mutter aufgelöst am Küchentisch vorfand. In der Hand hielt sie einen Zettel. Erst Jahre später sollte er erfahren, dass es ein Abschiedbrief des Vaters war. Johannes sah seinen Vater nie wieder.

Der Verlust des Vaters schmerzte bis heute.

Der Prior holte tief Luft stand auf und trat ans Fenster. Vor ihm schwarze Nacht. Er öffnete das Fenster und eine kühle Brise kam herein.

Während er so dastand und im Grunde ins Nichts starrte, bewegte sich plötzlich etwas in seinem Gesichtsfeld. Er konnte nichts Genaues erkennen.

„Bist du es?!“, fragte der Prior intuitiv.

Keine Antwort.

„Nun komm schon, zeige dich, wenn du es bist.“

Wieder keine Antwort. Aber es war ihm, als husche ein Schatten an ihm vorbei. Als er sich umdrehte, erkannte er den lachenden Vogel wie er auf seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. Wie gewohnt sah er den Prior mit seinem herausfordernden Blick an.

Der Prior setzt sich zu ihm an den Schreibtisch. Er sagte nichts, wollte abwarten, womit der lachende Vogel dieses Mal das Gespräch eröffnen würde. Doch auch er schwieg.

So vergingen Minuten, in denen sich beide unverwandt ansahen. Der Prior betrachtete die knopfbraunen Augen des lachenden Vogels; versuchte zu ergründen, was sie zum Ausdruck brachten, konnte den Blick jedoch nicht weiter ergründen.

Es vergingen weitere Minuten. Minuten in denen der Prior nochmals dem Gespräch Georg nachging.

Intuitiv schien der lachende Vogel dies zu erahnen, denn er brach das Schweigen:

„Du scheinst, als würden deine Gedanken in dir hin und her wandern.“

Der Prior zögerte einen Augenblick, ob er antworten sollte, entschied sich dann aber doch zum Reden:

„Ich hatte heute interessante Gespräche mit Bruder Georg.“

„Ein vertrautes Gespräch unter Freunden also?!“

„Ganz genau. Es ging um das Leben, unser Sein als freie oder doch eher bestimmte Wesen, unsere Sehnsucht nach erfülltem Leben und die Frage, ob das Lebensglück erst in einem Gegenüber, in der Partnerschaft zu finden sei, also in einer Lebensform, die nicht die unsere ist.“

„Und wo hat euch euer Gespräch unter Männern hingeführt?“

„Nun ja, zur Frage, ob es an der Zeit sei, sich auch in unserem vorangeschrittenen Alter noch auf eine Wagnis einzulassen.“

„Wagnis? Hört sich ein bisschen wie Torschlusspanik an. Hat nicht jedes Leben gelebte und ungelebte Facetten?“

„Ohne Zweifel. Gleichwohl beschäftigt uns alle doch die Grundfrage: Warum gibt es uns? Oder anders gesagt: Was ist unsere Bestimmung? “

„Das fragst du als Gottesmann?

„Warum nicht?“

Der Prior schüttelte unbewusst den Kopf.

„Was lässt dich zweifeln.“

„Zweifeln?“

„Ja, du hast gerade den Kopf geschüttelt.“

„Aber nicht aus Zweifel. Es war eher, weil ich merke, wie unser Gespräch seinen Fortgang nimmt, ich aber nicht sagen kann, dass es meine Gedanken zum Ausdruck bringt… und dabei muss ich an etwas denken, was jemand mal gesagt hat: „Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.“

„Nimmt unser Gespräch nun eine sophistische Wendung?“

„Nenn es, wie du willst. Endscheidend scheint mir, dass du es mir durch Worte anscheinend nicht möglich ist, meine inneren Gedankengänge nachzuzeichnen.“

„Dann versuch es doch nochmals. Ich höre dir zu.“

„Ich habe, wie du sicher weißt, vor einiger Zeit an altes Buch in die Hand bekommen. Der Autor geht darin dem Wesen der Liebe nach. Er spricht davon, dass wir Menschen in uns eine tiefe Sehnsucht tragen, ein Verlangen unser Sein zu transzendieren.“

„Ich verstehe gar nichts. Kannst du dich etwas einfacher, für ein Wesen wie mich angemessener ausdrücken?“

„Wie soll ich sagen… in uns wohnt so etwas wie der tiefe Wunsch, uns durch eine innige Verbindung zu einem Gegenüber zu finden und so persönliches Glück zu erleben. Das heißt, wir treten aus der Ichbezogenheit heraus und begegnen einem Du. Verbindung und Verbundenheit scheint bis heute für viele Menschen der Schlüssel zum Glück.“

„Scheint mir auch so. Und doch ist diese Verbundenheit gleichzeitig Ausgangspunkt für so viel Unglück und Leiden.“

„Ein Zusammenhang, warum es für Bruder Georg nicht erstrebenswert ist, sich auf das Wagnis einer Beziehung einzulassen. Ich bin nicht ganz seiner Meinung. Für mich ist und bleibt die Liebe in allen ihren Facetten und gelebten Ausprägungen ein zu hohes Gut. Vielleicht das Höchste, das Gott uns anvertraut hat. Schon sie zu beschreiben, sie in Worte zu kleiden, kommt allzu oft an ihre Grenzen.“

„Ich habe auch den Eindruck, dass gelegentlich inflationär mit diesem Wort umgegangen wird. Ich frage mich, was Menschen damit zum Ausdruck bringen wollen, wenn sie einander ihre Liebe bekunden.“

„Ja, und da haben wir sie wieder, die Grenze dessen, was letztlich aussprechbar ist. Es ist wie mit dem Versuch Gott zu beschreiben. In dem wir sagen, was Er nicht ist, kommen wir seinem Wesen viel näher. Mit der Liebe ist es ebenso. Es ist schwer zu schreiben, was sie ist. Es fällt uns leichter zu sagen, was sie nicht ist. Und doch bleibt der unablässige Versuch, dass Unmögliche nicht nur zu wagen, sondern sich auch sprachlich einem Gegenüber anzunähern, ihm durch Liebeschwüre nahe zu sein, die Liebe durch Worte zu besiegeln. Aber, und dies ist das, was mich seit Tagen beschäftigt, beraube ich die Liebe nicht ihrem Wesen, wenn ich sie und wenn nur in eine sprachliche Form zwänge. Ich liebe dich, sagt so viel und doch gar nichts. Wie oft habe ich diesen Satz gehört, wenn Paare bei mir zum Gespräch waren. „Ich liebe dich doch!“ hörte ich sie sagen und spürte doch etwas anderes.“

„Vielleicht ist die Liebe, mehr als die Buchstaben, das Wort auszudrücken vermögen.“