Der Prior sah den lachenden Vogel an. Dieser plusterte sich kurz auf und erstarrte dann wieder in der gleichen Haltung.
„Sprache hat sicherlich seine Begrenzungen. Vielleicht müssen wir einen Augenblick betrachten, aus welchem Impuls heraus Sprache gebildet wird. Was wollt ihr Menschen zum Ausdruck bringen, wenn ihr von Liebe redet?“
„Ganz allgemein gesagt: Bevor wir zu Worten greifen, eilt meist eine Tat allem voran. So wie Gott einst die Welt erschuf und am Ende feststellt, wie gut alles geworden ist. Am Ende fühlte er sich im Einklang mit seinem Werk, mit dem, was er sich vorgenommen hatte und geworden war. Im Einklang mit etwas zu sein, ist wohl die Keimzelle der Liebe. Ich fühle mich eins mit meinem Handeln. Trete aus mir heraus, folge einem inneren Berühtsein, öffne mich und agiere. In dieser Aktion mag anfangs noch Ungewissheit liegen. Was wird aus dem wird, was sich gerade entfaltet? Und doch liegt im Eintauchen in diese Ungewissheit eine schöpferische Kraft. Es geschieht, es wird… und am Ende können wir uns wie Gott vielleicht auch sagen: Es ist gut.“
„Ich frage mich: Wie wäre es, wenn ihr Menschen, öfters mal schweigen würdet, oder einfach nur eine fröhliche Melodie pfeift, bevor ihr versucht, mit Worten das Unbeschreibbare zu erfassen.“
Der Prior schwieg und dacht nach. Er musste schmunzeln. Dieser Vogel war ohne Frage ein Unikum.
„Ich kann dir nicht recht widersprechen. Dabei fällt mir ein…“
Der Prior sprach nicht weiter, griff zum vergilbten Buch, blätterte und zog einen Zettel heraus. Er entfaltete ihn, nahm seine Lesebrille zur Hand und begann zu lesen.
Liebe
Buchstaben, die nicht fassen
Sprache, die in die Leere geht
Liebe
Ereignis, da sich nicht suchen lässt
Etwas, das ist und sein wird
Liebe
Diese Urkraft
Die danach strebt
Gutes, Angenehmes und Wertes
Zu erschaffen
Der Vogel pfifft kurz auf, sagte aber nichts.
„Du weißt ja, als Prediger ist man auch Sammler von Gedanken, stets auf der Suche nach etwas, was dem Unbeschreibbaren vielleicht doch nahe kommt. Dies habe ich vor Jahren irgendwo gelesen und notiert. Es pass irgendwie zu unseren Gedankengängen.“
„Wohl wahr!“
„Mir kommt gerade noch ein anderer Gedanke: Wenn die Liebe eine schöpferische Kraft ist, vielleicht sogar die schöpferische Kraft, die alles von Anbeginn ins Leben gerufen hat, dann ist sie im Grundsatz durch und durch gut und zu bejahen. Sie ist wie die elterliche Liebe grenzenlos. Sie spricht dieses bedingungslose Ja, das für uns Menschen Lebensquelle ist, uns werden und sein lässt. Was wären wir ohne dieses Ja? Manchmal glaube ich, man kann Menschen an ihrem Gang, ihrer äußeren Erscheinung ansehen, ob ihr Leben unter diesem Ja steht.“
„Ich sehe tagein und tagaus viele Gestalten, denen es offensichtlich daran mangelt.