Es war Monate später, nachdem Juan und Felipe bei ihm eingezogen waren, da kamen diese eines Tages von der Schule und brachten Fernando mit.
Johannes ahnte sofort, was auf ihn zukam.
Noch Tage sollte er sich über sich selbst wundern. Er hätte abwarten können, was ihm die Jungen zu sagen hatten, stattdessen übernahm er selbst die Initiative.
„Sie an! Ihr habt also ein neues Familienmitglied mitgebracht. Kommt rein, das Essen ist schon bereit. Ich habe eine reichliche Portion gekocht. Sollte für alle reichen.“
Die Jungen waren sichtlich verblüfft.
„Schaut nicht so verdattert! Habt ihr keinen Hunger.“
„Über beide Ohren“, antworte Felipe, als er seine Fassung wiedergefunden hatte.
Zur Begrüßung reichte Johannes dem Neuen die Hand.
„Ich bin Johannes und wie heißt du?“
„Ich heiße Fernando.“
„Na, dann komm erst einmal rein. Beim Essen kann du mir erzählen, woher du kommst.“
Johannes hat Ajiaco gekocht, jene Suppe, die die Jungen so sehr liebten.
„Erzähl, woher kommst du Fernando!“
„Aus einem Vorort der großen Stadt. Ich bin von Zuhause abgehauen. Es war nicht mehr auszuhalten. Mein Vater hat mich fast täglich verprügelt. Zuletzt konnte ich fast eine Woche nicht in die Schule gehen, so angeschwollen war mein Gesicht. Vor einigen Tagen habe ich die Gunst der Stunde genutzt. Ich hatte Glück, dass ich alleine zu Hause war. Mich hat gleich ein LKW-Fahrer mitgenommen hat.“
„Was hast du vor?“
„Weiß nicht.“
„Das solltest du aber. Bei uns kann nur bleiben, wer sich auch ein Ziel setzt.“
Fernando überlegte eine Weile.
„Ich würde gerne…“
Er stockte mitten im Satz. So, als wolle er nochmals nachdenken, ob er das Gedachte auch aussprechen könnte.
„Im Grunde würde ich gerne ein relativ normales Leben führen können. Ohne Angst, geschlagen zu werden. Aufstehen, Schule, Spielen… nichts weiter.“
„Bist du bereit Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen? Bei uns ist jeder für einen Bereich allein verantwortlich.“
„Sicher, warum nicht. Was steht an?“
„Nun ja, Juan ist verantwortlich für das Füttern der Hühner. Felipe kümmert sich um unsere Kühe auf der Weide. Du könntest ihm dabei helfen. Denn das Melken ist ziemlich anstrengend. Später zeige ich dir, wie man aus der Milch Käse und Butter macht.“
„Kann ich wirklich bleiben?“
Fernando konnte dem Gehörten nicht recht glauben.
„Ein Wort ist ein Wort… und ich gebe dir mein Wort… was nicht heißen soll, dass du hier machen kannst, was du willst. Juan und Felipe werden dich in unsere Regeln einweisen.“
Fernando nickte, ohne recht zu wissen, was ihn wirklich erwartete. Immerhin, und das spürte er, schien Johannes keine hohlen Phrasen zu dreschen. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben den Eindruck, sich auf jemanden verlassen zu können.
„Der wichtigste Grundgedanke bei uns ist: Jeder von uns trägt einen kostbaren Schatz in sich. Etwas Einzigartiges, was nur ihm eigen ist.“
Fernando schaute Johannes arg skeptisch an.
Darauf sah dieser ihn mit durchdringendem Blick an.
„Während in der Welt heute viel dafür getan wird, dass man die Menschen kaum noch von einander unterscheiden kann, soll bei uns jeder das Einzigartige in sich erkennen wahrnehmen und ausdrücken lernen.“
Mit jedem Wort schien die Verwirrung bei Fernando größer zu werden.
„Mein Junge, ich verstehe, dass du mich für etwas merkwürdig halten musst. Jedoch, merke dir schon heute eines: Das Leben ist kein Getriebenwerden. Du bist kein Stück Treibgut auf dem Fluss. Du bist verantwortlich für jede Entscheidung in deinem Leben und für jeden Schritt den du machst. Du wirst bei uns nie sagen können, es waren die Umstände, die mich etwas haben tun lassen. Fehler zu machen, gehört dabei zum Geschäft. Wir alle können davon ein Lied singen.“
Fernandos Verwirrung verflog nicht wirklich. Aber anders als früher, machte ihn das Gesagte neugierig.
Er wusste zwar noch nicht was, er wusste aber, dass etwas Gravierendes in seinem Leben im Begriff war sich zu verändern.