Am Abend saß Johannes mit den Kindern noch lange im patio. Die Temperaturen waren nach dem sehr heißen Tag wieder angenehm kühl.
Johannes saß dort regelmäßig abends mit den Kindern. Es war ihm wichtig, dass die Kinder lernten über ihren Alltag zu sprechen und dabei Erlebtes wie Gefühle zu benennen. Es war weniger die Neugier, die ihn dazu trieb. Ihm kam es darauf an, dass die Kinder im Erzählen für sich etwas ganz Natürliches entdeckten. Sie sollten sich nicht fragen, ob es richtig oder gar gut war, Alltägliches miteinander zu teilen. Im Teilen, im Erzählen, im Lachen wie im Weinen sollten sie für sich erspüren und für andere erlebbar werden können, was sie gerade beschäftigte und bewegte.
Zu diesen Gesprächen gehörte ein kleines Ritual. Jeder und jede von ihnen sollte bei der Rückschau auf den Tag etwas Positives wie etwas Negatives benennen.
An diesen „Wetterbericht“, wie Johannes das Erzählen gerne nannte, schloss sich meist noch ein intensives Gespräch miteinander an. Manchmal wurde ausgehend von Tagesereignissen über Allgemeines diskutiert.
Rosa ergriff an diesem Abend als erste das Wort.
„Heute auf dem Heimweg von der Schule wurde ich plötzlich sehr traurig und habe angefangen zu Weinen.“
Luz und Isabel sahen ihre große Schwester mit großen Augen an. Sie schienen immer noch berührt zu sein, von dem was sich am Nachmittag ereignet hatte.
„Kannst du sagen, was dich traurig gemacht hat?“, wollte Johannes wissen.
„Nein.“
„Aber sie hat so schlimm weinen müssen, dass wir erst einmal am Straßenrand halt gemacht haben. Wir konnten sie erst gar nicht trösten“, ergänzte Isabel.
„Darf ich euch etwas erzählen?“, fragte Johannes nach einer kurzen Weile, während der alle schwiegen.
„Nur zu“, antwortete Juan mit der Bestimmtheit eines Ältesten.
„Hört zu! Ihr wisst, dass in Europa im letzten Jahrhundert ein fürchterlicher Krieg wütete. Nach dem Krieg war die Not in weiten Teilen Deutschlands sehr groß. Meine Eltern waren einfache Leute. Mein Vater war, wie ihr schon wisst, Bergmann. Wir hatten nicht viel. Als ich geboren wurde, war die größte Not zwar überwunden, aber große Sprünge konnten meine Eltern immer noch nicht machen. Lange hatte ich nur eine Hose. War sie dreckig und musste gewaschen werden, dann hatte ich keine andere, um vor die Tür zu gehen. Eines Tages hatte ich mich auf dem Heimweg mit einem Klassenkameraden geprügelt. Es hatte am Vormittag heftig geregnet und dementsprechend sah meine Hose aus. Als mich die Nachbarskinder am Nachmittag zum Fußballspielen abholen wollten, hing meine Hose noch zum Trocknen im Wind. Ich konnte nicht am Endspiel unserer Mannschaft in unserem Wohnviertel teilnehmen und war todunglücklich. Wir haben damals verloren.“
„Worauf willst du hinaus?“, wollte Isabel wissen.
„Nur Geduld. Viele Jahre später, ich lebte schon längst hier im Land, kam „Es war viele Jahre später. Ich war längst Mönch und lebte hier. Auf einem meiner Nachmittagsspaziergänge kam ich an einer Wäscheleine vorbei und musste plötzlich bitterlich weinen. Ich konnte mir dies damals genauso wenig erklären, wie du heute Rosa. Erst Tage später, dachte ich beim Fußballspielen der Kinder auf der Straße an jene alte Begebenheit.“
Die Kinder sahen ihn immer noch fragend an.
„Nun ja, offensichtlich behalten wir viele Dinge, die uns widerfahren, in unserm Unterbewusstsein. Dort bleibt alles wie auf einem Computer gespeichert, ohne dass wir immer sagen können, was es im Einzelnen ist. Manchmal kommt es unbemerkt zum Vorschein. Wir erleben etwas, was uns an etwas Früheres erinnert.“
„So wie mit der Wäscheleine“, warf Felipe ein.
„Aber woran wurde Rosa erinnert?“, wollte Fernando wissen.
Alle sahen Rosa fragend an.
„Ich weiß es nicht.“
„Löchert sie nicht. Es braucht bestimmt noch etwas Zeit, bis sie es uns erzählen kann. Vielleicht… und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Merkt euch nur eines: Lernt euch selbst gegenüber wachsam zu sein.“
„Wachsam?“, kam es fast wie im Chor aus den Kindern.
„Ja, wachsam. Das heißt, lernt euch selbst ernst zu nehmen, mit allem, was ihr fühlt und denkt… egal, was andere gerade dazu sagen, oder davon halten. Ihr allein könnt einschätzen und sagen, ob sich etwas gerade gut oder schlecht anfühlt, ob ihr gerade glücklich oder eher traurig, ärgerlich oder erfreut seid. Seid wachsam in jedem Augenblick eures Lebens!“