Der lachende Vogel III,X

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„In den täglichen Gesprächen mit den Kindern, in der Auseinandersetzung mit ihren Fragen, in all dem, was ich mit ihnen teilen kann, bin ich als Person, mit meiner Lebensphilosophie und meinem Glauben herausgefordert.“

„Ich kann es mir denken.“

„Dabei kommt ja nicht nur Alltägliches zur Sprache. Die Kinder haben fürchterliche Erfahrungen hinter sich. Hinter einer banalen Schilderung eines Ereignisses vom Tage steckt nicht selten viel mehr.“

Johannes machte eine Pause. Er schien nachzudenken.

„Kürzlich erzählte Camila von einer Begebenheit in der Schule. Ein Junge hatte sich mit einem anderen geprügelt. Dabei hatte der eine den Kopf des anderen immer wieder heftig auf den Boden geschlagen, bis dieser irgendwann bewusstlos dalag. Die Schüler hatten sich wie bei einem Schauspiel darum herum versammelt. Keiner griff ein. Für die Lehrer, die auf dem Schulhof gerade Aussicht hatten, was die Sicht versperrt. Erst der Schrei eines Mädchens weckte ihre Aufmerksamkeit. Ich war entsetzt über die Teilnahmslosigkeit der Schüler und fragte Camila, was sie glaube, warum keiner von den anderen Mitschülern eingegriffen habe. Auf Anhieb wusste sie nichts zu sagen. Ich wollte ihr persönlich keine Vorwürfe machen, wollte nur wissen, wie es ihr damit gegangen war. Lange sah sie auf den Boden. Wir schwiegen alle, waren gespannt, was sie sagen würde. Streng genommen hätte Fernando und Luz auch etwas sagen können, denn auch sie waren Teil des Schauspiels geworden. Es war aber Camila, die angefangen hatte zu erzählen. Schließlich begann sie heftig zu weinen. Als sie sich etwas beruhigt hatte, fuhr sie fort zu erzählen. Was sie dann zu sagen hatte, hatte nichts mehr mit dem Vormittag zu tun.“

„Ich habe mir schon so etwas gedacht.“

Johannes ging nicht weiter auf den Einwurf des lachenden Vogels ein.

„Camila erzählte von zu Hause. Ich habe an diesem Abend zum ersten Mal erfahren, dass die drei Schwestern noch einen älteren Bruder haben. Pablo wurde regelmäßig in der Schule verprügelt, weil er in Rückstand mit irgendwelchen Schutzgeldbeträgen war. Er selbst versuchte sich lange von beiden Schulbanden fernzuhalten. Dies gelang auch, bis er eines Tages doch auf dem Heimweg von der Schule zur Seite genommen wurde. Ihm wurde unmissverständlich klar gemacht, dass er von nun an regelmäßig zahlen müsse. Immer dann, wenn er mit seinen Zahlungen in Verzug geriet, wurde er so übel verprügelt, dass die ganze Sache irgendwann nicht mehr zu verheimlichen war. Eines Nachts verwand der Bruder und ward nicht mehr gesehen. Camila war die letzte, die ihn sah. Pablo hatte immer zu seiner jüngsten Schwester eine besondere Beziehung gehabt. Sie war es auch, die ihm ein paar Sachen in einem Bündel übergab. Tagelang muss sie am Fenster gewartet haben. Nächtelang hat sie nicht geschlafen, um ihren Bruder, wenn er doch zurückkäme als erste in den Arm nehmen zu können. Später hieß es, der Bruder sei zur Guerilla gegangen. Kein Einzelfall, leider. Häufig landen dort Jugendliche, die von zu Hause aus welchen Gründen auch immer abgehauen sind. Sie haben mit dem „normalen“ Leben abgeschlossen.“

„Wie gut, dass eine Handvoll von ihnen bei dir mehr als einen Unterschlupf gefunden hat.“