„Nein, nicht wirklich. Aber in einer Welt, die Menschen so nach Unabhängigkeit und selbstbestimmten Leben streben lässt, hat es schon manchmal den Anschein. Auch ich habe mein Sein über so viele Jahre viel zu funktional gesehen. Habe gedacht, meine Aufgabe sei es allein partiell für einzelne Menschen da zu sein. Ich habe von zwischenmenschliche Begegnungen nie wirklich etwas erwartet, weil ich immer dachte…“
Hier hielt Johannes inne. Er suchte nach Worten und verwarf das, was er fand.
Der lachende Vogel sah ihn ermunternd an. Augenblicke wie eine Ewigkeit vergingen.
„Heute denke ich, ich habe mich selbst hinter einer Fassade versteckt. Ich war so dicht dran an dem, was das Leben ausmacht, war ein guter Zuschauer und Zuhörer. Ich konnte Menschen in schwierigen Situationen ihres Lebens bisweilen ein Wort sagen, dass sie aufrichtete, ihnen den Blick in eine andere Zukunft eröffnen. Aber mir selbst gegenüber blieb ich doch eher stumm. So vergingen Jahre, ohne dass ich wirklich spürte, wie sehr mir eine gelebte Beziehung als Teil meines eigenen Lebens fehlte. Erst die Kinder, das Zusammenleben mit ihnen hat mir den Blick dafür geöffnet. Ich empfinde so viel Freude, kleinste Alltäglichkeiten mit ihnen teilen zu können. Ja, was wäre ich ohne sie, ohne ihr Lachen, ihre Fragen, ihre Sorgen, ihre ganz persönliche Art das Leben zu sehen und zu meistern. Und immer ist das, was wir gemeinsam in die Waagschale des Lebens legen, mehr, so viel mehr als die Summe all dessen, was uns selbst mitgegeben ist. Früher dachte ich stets, es komme allein darauf an, das Leben mit all seinen Herausforderungen zu meistern… und ich dachte, der Ort dafür sei für mich das Kloster, die Gemeinschaft mit meinen Brüdern. Bis vor einiger Zeit war es dies wohl auch. Heute bin froh hier zu sein, auch wenn ich manchen Abend nicht recht weiß, wie der nächste Tag überstanden werden kann.“
Johannes hielt erneut inne. Er sah den lachenden Vogel fragend an.
„Du hörst die ganze Zeit nur zu. Du hast doch sonst meiner Rede etwas entgegnen zu setzen.“
Der lachende Vogel machte keine Anstalten, die zugeworfene Frage aufzugreifen.
„Nun sag doch was. Eine Unterhaltung besteht doch nicht darin, dass der Eine etwas sagt und der Andere schweigt.“
Der lachende Vogel schwieg weiter.
Johannes wandte sich von ihm ab und trat ans Fenster. Der Gemüsegarten lag im Mondschein. Zwischen dem Mais sah er plötzlich einen Schatten vorbeihuschen.
Als Johannes sich wieder umdrehte, war der lachende Vogel verschwunden.
„Du bist mir einer“, sagte Johannes vor sich hin.
Als er auf seinem abendlichen Rundgang nochmals in die Zimmer der Kinder schaute, schliefen alle ruhig und friedlich.
Noch eine ganze Weile saß Johannes mit einem guten Glas Rotwein im patio und betrachte die sternklare Nacht. Er musste an seinen Großvater denken, der im in klaren Sommernächten die Sternbilder erklärt hatte. Als seine Großmutter starb, saßen beide eines lauen Abends draußen. Siehst du den Stern da oben, fragte sein Großvater und zeigte nach oben. Dort, den Stern, der ganz hell leuchtet. Das ist deine Großmutter. Sie schaut nun von dort oben auf uns herab. Noch heute, wenn er in den Sternenhimmel sah, musste er daran denke. Nicht, dass er wie in Kindertagen daran glaubte. Und doch war es ein schöner Gedanke. Und manchmal war neben dem Stern der Großmutter ein andere zu sehen.