Der lachende Vogel III,XV

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Johannes saß in der durch Kerzenschein matt erleuchteten Kapelle und las in seinem Brevier. Er blätterte nochmals zurück zum Morgenpsalm:

„Ich muss mich mitten unter Löwen lagern, die gierig auf Menschen sind. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile, ein scharfes Schwert ihre Zunge. Erheb dich über die Himmel, o Gott! Deine Herrlichkeit erscheine über der ganzen Erde. Sie haben meinen Schritten ein Netz gelegt und meine Seele gebeugt. Sie haben mir eine Grube gegraben; doch fielen sie selbst hinein. Mein Herz ist bereit. Wach auf meine Seele.“

Schon oft hatte es sich gefragt, mit welchem Grundgefühl die Kinder jeden neuen Tag begannen.

Die Zeit hier hatte manches für die Kinder verändert, in ein anderes Licht gestellt.

Doch konnte damit alles Grauen der Vergangenheit für immer ausgemerzt werden.

Er hatte seine Zweifel.

Die Seele eines Menschen war ein zu fragiles Etwas, auch wenn keiner mit Bestimmtheit sagen konnte, wo sie lokalisiert war. Für ihn war es außer Zweifel, dass es sie gab.

Es war das, was den Menschen zu Lebzeiten durch den Atem Gottes beseelte, lebendig machte und am Leben hielt.

„Aber, wenn Gott uns beseelt, wie sollte die Seele dann Schaden nehmen können?“

Johannes sah sich erschrocken um.

Er konnte den lachenden Vogel zunächst nicht erkennen. Dann sah er ihn auf einem der Nachbarstühle sitzen.

„Du kommst gerade recht. Hast dich wohl zu einem gedanklichen Stelldichein eingefunden?!“

„Dies soll mir ein Vergnügen sein. Nun antworte schon auf meine Frage!“

„ Wenn Gott uns beseelt, wie sollte die Seele dann Schaden nehmen können?“

Johannes wiederholte in Gedanken die Frage.

„Im Grunde hast du recht… man könnte sagen, die Seele sei ein unverletzbarer Anteil Gottes in uns. Im unserem Alltag jedoch erleben wir dies häufig ganz anders. Wir sehen die Seele als Sitz unserer Gefühle und Emotionen. Wenn es uns schlecht geht, sagen wir ja auch unsere Seele sei bedrückt… Warte, ich habe etwas!“

Johannes stand auf, ging zu seinem Nachttisch, öffnete die Schublade und griff nach einem kleinen Notizbuch.

Er entnahm ihm einen Zettel und begann zu lesen:

meine seele brennt

ist dabei sich zu verlieren

flammen lodern auf

alles verzehrt sich in mir

 

meine seele brennt

jeder atemzug

legt frei

was ist

und reinigt

sie gleichzeitig

von allem unrat

 

meine seele brennt

und doch

ich spüre ich

etwas ist

unverwüstbar

 

meine seele brennt

bis sie sich

geläutert erhebt

 

Johannes legt den Zettel zurück in das Notizheft.

„Ich bin beeindruckt, von der Schärfe der Worte.“

Dem lachenden Vogel entwich ein leises Pfeifen.

Johannes sammelte seine Gedanken, bevor er wieder das Wort ergriff.

„Weißt du, manchmal wünsche ich mir bei aller Not und Ungerechtigkeit nur dieses Eine für jeden Menschen: eine geläuterte Seele, die ihren Frieden gefunden hat.“

Schweigen erfüllte die Kapelle.

Keiner von beiden schien etwas sagen zu wollen.

„Ich möchte dich ja nicht mit einem weiteren Zitat langweilen, aber…“

Der lachende Vogel unterbrach ihn.

„Nur zu, du langweilst mich nicht.“

Johannes öffnete erneut das Notizheft und las das handschriftlich eingetragene Zitat vor:

„Die wirkliche Welt befindet sich außerhalb der Gedanken und Ideen. Wir sehen sie durch das Netz unserer Begierden, aufgeteilt in Lust, Schmerz, Gut und Böse, Innen und Außen. Um das Universum so sehen zu können, wie es ist, müssen wir aus dem Netz heraustreten. Das ist nicht schwierig, denn es ist voller Maschen.“