„Mir scheint dies eine alte Frage aufzuwerfen, die Frage nach Schein und Sein. Was können wir als wirklich betrachten, das heißt, was zu erfassen und begreifen suchen? Und was entspringt doch nur unseren Gedanken, Phantasien und Wünschen?“
Der lachende Vogel schien nachdenklich.
„Die Beantwortung der Frage was wirklich ist, scheint mir doch eine höchst persönliche zu sein. Und dies in einem doppelten Sinne: Nicht nur, dass die Wahrnehmung eine persönlich gefärbte ist, auch die Deutung dessen, was ich für mich wahrnehme, bleibt zutiefst persönlich.“
„Trotzdem kann man behaupten, dass es eine – nicht die – Wirklichkeit gibt, die sich außerhalb unserer ereignet und was noch bedeutsamer ist, jenseits unserer Gedanken und Ideen existiert. Der Baum, den ich nicht sehe, den ich nicht als Baum identifiziere bleibt ein Baum, auch wenn ich ihm nie ihm Leben begegnen sollte.“
„Ein spannender Gedanke, denn er führt weiter zu der Überlegung, ob es möglich sei, dass ihr Menschen, wenn es euch gelänge, alle Ideen und Gedanken abzustreifen, etwas auf ein und dieselbe Art und Weise wahrnehmen und deuten würdet. Ja, und ich nehme wahr, dass einige von euch Zweibeinern mit aufrechtem Gang bemüht sind, genau dieses zu schaffen: Sich auf das Sein an sich einzulassen. Hast du als Mönch nicht gerade dies immer wieder im Blick gehabt?“
Johannes holte tief Luft.
„Ich muss dir Recht geben. Auf das Leben an sich zu schauen, darum habe ich mich lange Zeit meines Lebens bemüht.“
„Und was ist deine Erkenntnis?“
„Heute würde ich sagen, es ist die eine Seite der Medaille.“
„Und die andere?“
„Die andere?! Nun ja, man könnte sagen, es ist alles, was der persönlich gefärbten Wahrnehmung und den individuellen Gedanken entspringt. Also das, worin das Leben für uns konkret erfahrbar wird. Was uns Glück bereitet, aber auch leiden lässt… und dies höchst subjektiv.“
„Könnte man also sagen, es ist letztlich von untergeordneter Bedeutung, ob etwas wirklich ist oder nicht?“
„Du stellst eine Fangfrage. Folgerichtig zu dem gerade Gesagten müsste man dies bejahen. Aber im Grunde fühlen wir ganz anders. Wir wünschen uns nichts sehnlicher als das sich unsere Wahrnehmung mit der eines Anderen deckt. Wenn wir spüren, dass wir jemanden lieben, dann wollen wir auch wahrnehmen, dass diese Gefühle erwidert werden. Wenn wir Gedanken austauschen, wollen wir nicht nur irgendwie den Eindruck haben, verstanden worden zu sein. Nein, wir wollen im Hin und Her des Austausches uns gleichsam in schwindelerregende Höhen aufschwingen. Was wir gleichwohl mühsam dabei sind zu lernen und zu akzeptieren, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit von Mensch zu Mensch nicht nur divergieren kann, sondern dass ich aus meiner Deutung des Wahrgenommenen im Grunde keine Rückschlüsse auf das, was für den Anderen wirklich ist, ableiten kann.“
„Dann hat das persönliche Leiden eines Menschen an den Umständen seines Lebens mehr mit seinen Gedanken und Ideen zu tun, als mit dem, was wirklich ist?“
„Ja und nein. Ich stimme dir zu, dass unser Gewordensein nicht nur Weitsicht und Erkenntnis mit sich bringen. Manchmal kann uns das Gewesene wie ein blinder Fleck die Sicht versperren. Und doch muss ich deine Frage gleichzeitig verneinen, denn das, was wir mit Glück und glücklich sein verbinden, ist so konkret, dass der Mangel daran unglücklich machen kann. Wenn ich gerne die Toccata von Bach höre, dann ist es ein real erlebtes Unglück, wenn die Musik für mich nicht mehr hörbar ist.“
„Darf ich dir einen Ausspruch zitieren, den ich vor einiger Zeit auf meiner Reise in ein fernes Land aufgeschnappt habe, und der mir nun allzu treffend erscheint?“
„Nur zu!“
„Sofern es eine Möglichkeit gibt, sich von Leid zu befreien, müssen wir jeden Augenblick nutzen, um sich zu finden. Nur ein Narr will weiter leiden. Ist es nicht beklagenswert, wenn jemand wissentlich Gift zu sich nimmt?“