„Ich glaube mittlerweile, dass das, was das Leben erschwert, nicht der Mangel an etwas ist, dem die meisten Menschen zeitlebens nachstreben: Auskommen und Besitz, Bildung und Erziehung, Macht und Einfluss.“
Johannes Worte zeigten Wirkung.
Die Kinder schwiegen. Ob aus Einsicht in das, was er damit hatte sagen wollen, oder aus Unverständnis.
Johannes war sich dessen bewusst. Seine Worte waren die eines alternden Mannes, kaum verständlich für Heranwachsende. Und doch unternahm er stets von Neuem den Versuch, die Kinder für seine Gedanken zu begeistern.
„Ich weiß, dass meine Worte euch wieder viel abverlangen. Lasst es mich nochmals anders ausdrücken. Ich will euch eine Frage stellen: Was ist euer Ziel im Leben?“
Juan brauchte nicht lange zu überlegen.
„Ich möchte einen Beruf erlernen, der es mir möglich macht, mich und meine Familie zu ernähren und ausreichend Geld haben, um ein kleines Stück Land zu kaufen, auf dem wir alle leben können.“
Als zweiter antwortete Rosa.
„Mein Ziel ist es, nach der Schule zu studieren, um später selbständig leben zu können.“
„So geht es mir auch“, schloss sich Luz an.
„Vielleicht auch ganz ohne Mann und Familie, ich weiß es noch nicht“, ergänzte sie nach einer Weile.
„Ich möchte als Fußballstar groß herauskommen“, erklärte Felipe.
Fernando schien mit den gehörten Antworten nicht ganz zufrieden zu sein.
„Denk keiner von euch an die Zukunft unseres Landes. Ich werde einmal Präsident und werde dafür sorgen, dass es allen besser geht. Ich meine, denen wie uns besser geht… und ich werde für Frieden sorgen.“
Die anderen sahen in verwundert an. Damit hatte keiner gerechnet. Skepsis lag im Ausdruck ihrer Gesichter.
Johannes freute sich insgeheim, ließ sich davon aber nichts anmerken.
„Und du Camila, wie steht es um dich?“
Camila wippte mit einem ihrer Beine hin und her und sah auf den Boden.
„Nun sag schon!“, ermunterte Luz sie.
Camila schwieg noch eine Weile bis aufsah.
„Ich, ja ich… erwarte eigentlich gar nichts von meinem Leben. Außer, dass ich mit dem, was kommen wird, glücklich sein kann.“
Dann senkte sie erneut ihren Blick. Hatte sie gesagt, was sie wirklich hatte sagen wollen. Nein, ganz und gar nicht. Warum tat sie es nicht wie die anderen. Oder sagte einfach etwas, von dem keiner so recht sagen konnte, ob es der Wahrheit entsprach.
Eine endlose Weile, in der alle anderen immer unruhiger wurden, zog sich dahin.
Dann entfuhr ihr ein Satz, wie eine Pfeil steil in die Luft geschossen.
„Ich werde irgendwann die Liebe meines Lebens finden und mit ihr bis ans Ende meiner Tage zusammenleben.“
Der Blick aller Kinder war auf sie gerichtet.
Das sieht ihr ähnlich, dachte Juan, als der Satz in seinem Bewusstsein gelandet war. Sie ist und bleibt eine Träumerin.
Eine Zeit lang schwiegen sich alle an.
Johannes brach das Schweigen.
„Ich möchte Camilas Antwort aufgreifen. Sie spricht von Liebe und stellt uns alle damit vor die Frage, ob man letztlich ohne sie glücklich sein kann. Auch ohne die Liebe je wirklich erlebt zu haben, bin der festen Überzeugung, dass sie uns das einzig wahre Glück beschert. Sie zu entbehren, kann für Menschen zu einem großen Schatten auf ihrem Leben werden… und was dabei von großer Bedeutung ist: Menschen die lieben, verändern eine Gesellschaft zum Guten hin. Sie sind bis heute eher eine Ausnahme. Und bei all dem, was ihr schon früh erleben musstet, erscheint es vielleicht abwegig, den Blick darauf zu wenden. Anderes scheint wichtiger. Dennoch, vertraut auf die ungeheure Kraft der Liebe. Sie kann alles andere auch verändern können.“