EPILOG
Juan hatte sich früh aufgemacht.
Es war zu seiner regelmäßigen Gewohnheit geworden, am Morgen auf den kleinen Dorffriedhof zu gehen.
Als er den Friedhof betrat, war die Sonne gerade über der Bergkette hervorgetreten. Die ersten Strahlen des Morgens erwärmten ihn angenehm. In der Nacht hatten die Temperaturen fast den Gefrierpunkt erreicht.
In der Hand hielt er jenes Kleine Stundenbuch, das Johannes all die Jahre in Gebrauch gehabt hatte. Es war abgegriffen, von Spuren der Zeit gekennzeichnet.
Johannes Grab lag im hinteren Teil direkt an der Mauer, die den Friedhof einsäumte. Auf der Sandsteinplatte war sein Name, Geburts- und Todestag zu lesen. Im oberen Teil war in den Stein ein Vogel eingraviert.
Juan schlug das Stundenbuch auf und begann zu lesen:
Halleluja!
Lobet Gott in seinem Heiligtum,
lobet ihn in der Feste seiner Macht!
Lobet ihn für seine Taten,
lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit!
Lobet ihn mit Posaunen,
lobet ihn mit Psalter und Harfen!
Lobet ihn mit Pauken und Reigen,
lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!
Lobet ihn mit hellen Zimbeln,
lobet ihn mit klingenden Zimbeln!
Alles, was Odem hat,
lobe den HERRN! Halleluja!
Dann hielt er für einige Minuten im Schweigen inne.
Bevor er ging betete er das Vater unser bat Gott um den Segen für den Tag und verließ ruhigen Schrittes den Friedhof.
Nachdem Johannes vor einigen Jahren eines Nachts friedlich verstorben war, war Juan der einzige gewesen, der geblieben war. Er hatte geheiratet und eine Familie gegründet. Seinen ältesten Sohn Juan Gabriel hatte Johannes noch getauft. Zu seinen drei Kindern hatten sich im Laufe der Zeit zwei weitere Waisenkinder gesellt. Juan arbeitete auf einer nahegelegenen Kaffeefinca.
Sein Bruder Felipe war an den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt, hatte das Haus der Eltern verlassen vorgefunden und wieder aufgebaut. Dort lebte er mit seiner Frau und seiner Tochter. Die verlängerten Wochenenden rund um einen Festivo nutzen er gerne, um seinem älteren Bruder und seiner Familie einen Besuch abzustatten.
Rosa und Luz waren nach dem Schulabschluss zum Studieren in die große Stadt gegangen. Rosa wurde Kinderärztin in einem der Krankenhäuser des Südens, Luz hatte Landwirtschaft studiert und war nun Beraterin der Regierung bei der anstehenden Agrarreform. Beide blieben unverheiratet.
Fernando war seiner inneren Stimme gefolgt, hatte im Ausland Politikwissenschaften studiert, seiner Doktor gemacht und nach Jahren zurückgekehrt. Es schien immer noch, als bereite er sein auf das Präsidentenamt vor.
Camila wurde freischaffende Künstlerin, lebte fernab von allem irgendwo im Hochland, kam nur selten noch in die großen Stadt und träumte immer noch von der großen Liebe.
An manchen Abenden gesellt sich bis heute der lachende Vogel zu Juan und den Seinen. Meist sitzt er auf dem Dach, folgt den Gesprächen im Patio, nickt hin und wieder und scheint zufrieden zu sein.
Seit vielen Jahren sind auf einer Mauern im Patio, heute nur noch schwer zu entziffern, jene Sätze zu lesen, die sie niederschrieben, als sie ihr zweites Zuhause verließen:
Eins zu sein mit sich und der Welt, die uns umgibt.
Am Ende bleibt: Liebe ist mehr als ein Wort.
Ich halte den Schlüssel für meine Zukunft in den Händen.
Ich nehme mir Zeit für das wirklich Wichtige.
Mein Mitgefühl gilt zu allererst mir selbst. Mich will ich lieben.
Es waren fünf Sätze. Einer fehlte noch. Juan war nie fortgegangen, nur die kurze Zeit seines Militärdienstes und die zählte für ihn nicht.
Seine Satz hatte er längst im Kopf. Er stand in unsichtbaren Lettern neben denen seiner Geschwister:
Ich will lieben,
jeden Tag neu erwachen,
Frieden und Verständnis finden
und mich immer neu mit der Welt verbinden.