Spiegelungen

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„Für jeden gibt es eine Heimkehr.

Jeder, der ein Zuhause hat,

kehrt irgendwann dorthin zurück.“

Juan Gabriél Vásquez – Die Informanten

PROLOG

Er hatte sein Leben auf seine Weise gelebt. Sie stand von Ferne und versuchte sich an sein Gesicht zu erinnern.

Nur vage gelangt es ihr. Verschwommene Konturen.

Als wolle sie das innere Bild scharf stellen, kniff sie die Augen leicht zusammen. Vergeblich.

Zum ersten Mal seit Jahren der Wunsch, sich seiner zu erinnern.

Lange Jahre wurde jeder Gedanke an ihn gemieden, ausgeblendet. Anfangs schien das Leben ohne ihn einfacher. Mit der Zeit wurde es immer schwerer sich seiner bewusst zu erinnern. Manchmal, was immer seltener wurde, griff sie zu einem Foto. Es zeigte ihn auf einem Einhandsegler. Er als jungen Mann irgendwo in südlichen Gewässern. Ein Geschenk von ihm. Kurz nach ihrem ersten bestandenen Segelschein.

Von weitem hatte sie die Trauerhandlung am Grab verfolgt, ihre Schwester neben der Mutter erkannt.

Im Schutz einer Baumes setzte sie sich irgendwann auf eine der dicken Wurzeln. Verharrte. Wartete. Sah ab und an auf, um den Blick wieder bodenwärts fallen zu lassen.

Sie verlor jeden Orientierung für die Zeit. Verschränkte die Arme auf ihren Knien. Ließ den Kopf und Gedanken fallen. Nickte für Augenblicke ein. Erschöpft. Im Flugzeug hatte sie kaum schlafen können.

Als sie nach unbestimmter Zeit wieder aufsah, waren die Trauernden vom Grab verschwunden. Sie stand auf. Wankte leicht. Unschlüssig. Ging los. Erhoffte mit jedem Schritt Klärung. Würde sie den physischen Nähe standhalten. Sie sah zum Himmel. Hilfe suchend. Intuitiv, nicht aus Überzeugung. Ging weiter. Blieb wiederholt stehen. Sah erneut auf. Hörte Vogelstimmen.

Etwas trieb sie vorwärts. Sie schien sich zu entfernen. Wie sollte sie die Lichtjahre zwischen sich und ihrem Vater überwinden?

Sie spürte ihre versteiften Glieder. Ihren Herzschlag stolpern. Leichtes Flimmern vor den Augen. Nur nicht das Bewusstsein verlieren, dachte sie.

Tiefes Luftholen. Erneutes Verharren.

Warum? Warum war sie hier?

Nach all den Jahren. Warum gerade jetzt?

Am Tag der Beerdigung. Wollte sie ein letztes Mal Abschied nehmen? Ihn gleichsam endgültig aus ihren Gedanken, hinab in das Reich des Vergessens stürzen.

Ewigkeiten vergingen.

Erschöpft stand sie irgendwann am Grab. Senkte den Blick hinab in das klaffende Erdloch. Dieses war, anders als sonst üblich, nicht sogleich geschlossen worden.

Sie wünschte, der Sarg wäre nicht mehr zu sehen gewesen. Dies hätte es ihr leichter gemacht, auf innere Distanz zu gehen.

So ergrifft etwas aus tiefstem Inneren Besitz von ihr. Emotionen brachen hervor. Lange unterdrückt. Eruptiv. Sie konnte sich nicht auf den Beinen halten. Taumelte. Fiel hin. Fast ins Grab. Fand Halt an einem Stück des künstlichen Rasens.

Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, setze sie sich. Ließ die Beine vorn über ins Grab baumeln, fast bis an den Sarg heran.

Surreale Gedanken erfassten sie.

Hinabsteigen?

Sie konnte es immer noch nicht glauben? In dieser Holzkiste sollten die sterblichen Überreste ihres Vaters liegen. Etwas begehrte dagegen auf.

Sehr diffus und unklar.

Für vieles zu spät, dachte sie.