Spiegelungen I

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Ich bring ihn um.

Mit aller Inbrunst schrieb sie diesen Satz in ihr Tagebuch. Mehrfach unterstrich sie das Ihn so heftig, dass sie an einer Stelle die Seite durchlöcherte.

Ich hasse meine kleine spießige Familie. Meine klettige Mutter, die mich so sehr mit ihrer Fürsorge und Liebe einwickelt, dass mir kaum Luft zum Atmen bleibt. Meinen spießigen Stiefvater Bruno, der immer alles besser weiß, diesen aufblähten Schlaukopf. Und vor allem hasse ich meine kleine, zickige, verzogene, nervige Schwester Sophie, ihr puppenhaftes Wesen, ihr breites Grinsen, das nie zu enden scheint.

Sie schreckte auf, als ihre Mutter ohne Klopfen, wie es ihre Unart war, kaum hörbar das Zimmer betrat.

Hastig ließ sie das Tagebuch unter einem Schulbuch verschwinden. Ihre Mutter bemerke nichts von diesem Augenblick hektischer Bewegungen. Sie war wie immer zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie wirklich wahrzunehmen in der Lage gewesen wäre, was sich außerhalb ihres eigenen Universums ereignete.

„Claire, hast du meine Küchenschere, du weißt doch, die gelbe?“

Ihre Mutter sah sich kurz um. Ohne eine Antwort abgewartet zu haben, verließ sie das Zimmer. Durch die wieder geschlossene Tür war ihr Gemurmel noch zu hören. Hatte sie etwas von Abendessen gesagt. Claire wusste es nicht mehr. Wie so häufig, weil sie ihre Mutter nur noch selten richtig zuhörte. Ob man es tat oder nicht, es lief auf dasselbe hinaus. Es war kaum möglich, zu dieser Frau Mitte vierzig vorzudringen. Selbst für sie als Tochter nicht. Mit Verwunderung und wachsende Ärger nahm sie wahr, wenn ihre Schwester innig verbunden mit ihrer Mutter am Esstisch saß, während sie und Bruno, ihr Stiefvater, bereits aufgestanden waren. Wie konnte man nur mit dieser Frau leben, als Mutter war sie schon die reinste Hölle.

Was hatte sie als Tochter nur falsch gemacht, dass sie mit solchen Eltern gestraft wurde. Aber was sollte sie schon falsch gemacht haben. Als Kind hatte man keinen Einfluss auf das pränatale Geschehen.

Den Wunsch, andere Eltern zu haben, hatte sie schon früher verspürt, wenn auch diffus.

Vor allem genoss sie es, zu Hause bei Anne ihrer besten Freundin zu sein. Egal, wer ihr die Tür zu der kleinen aber gemütlichen Vierzimmerwohnung öffnete, jedes Mal kam ihr diese andere Atmosphäre entgegen, etwas das sie anfangs sehr irritiert hatte.

Mit der Zeit wurde Annes zu Hause zu ihrem. Wann sie nur konnte, verbrachte sie Zeit bei ihr. Anna und Claire waren wie unzertrennbare Geschwister.

Wenn die Luft zu Hause mal wieder unerträglich wurde, tauchte Claire nicht selten für Tage, manchmal sogar für Wochen bei Anne unter. Annes Eltern hatten nichts dagegen. Vor allem freuten sie sich, dass ihre einzige Tochter in Claire die lang ersehnte Schwester gefunden hatte. In Zeiten, in denen es für Claire zu Hause sehr schwierig wurde, sprachen Annes Eltern häufig über die Möglichkeit, Claire wenn nötig zu sich zu nehmen.

Einmal hatten Claires Mutter und Bruno sogar den Anwalt auf die Eltern von Anne gehetzt. Claire war wieder einmal seit Tagen nicht nach Hause gekommen. Claires Mutter fiel jedoch dieser Umstand meist frühestens am dritten Tage auf, oder an Montagen, wenn sie dabei war die Wäsche aus allen Zimmern zusammenzutragen. Wie ein Spürhund hatte der Anwalt Claire mit der Hilfe eines Privatdetektivs nach 10 Tagen aufgespürt. Das Schreiben vom Anwalt, welches einige Tage später bei Annes Eltern eintraf, bezichtigte sie der Freiheitsberaubung. Beim Öffnen des Briefes, musste Paul, Annas Vater, schallend lachen. Zu einem gerichtlichen Verfahren kam es jedoch nicht. Annes Eltern erklärten sich bereit, Claires Mutter zukünftig in Kenntnis zu setzen, wenn Claire mal wieder für längere Zeit bei ihnen unterzutauchen gedenke.

Ein erneutes Klopfen schreckte Claire auf. Bruno stand im Türrahmen.

„Hallo Claire, hast du Appetit auf Salat mit frischen Pilzen?“

„Komme gleich,“ entgegnete Claire leicht abwesend.

Eigentlich hatte sie keinen rechten Hunger. Sie hatte die letzten zwei Stunden schon eine Tafel Schokolade und die letzten Prinzen ins sich gestopft. Dies hatte ihr etwas über die schwachsinnigen Hausaufgaben hinweggeholfen.

Claire ließ noch schnell ihr Tagebuch in ihrem Geheimversteck hinter der verstaubten Brockhaus-Ausgabe verschwinden. Beim Verlassen ihres Zimmers streckte ihr Einstein mal wieder die Zunge entgegen.