Spiegelungen II

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Alle saßen schon bei Tisch, als Claire nach dem Umweg über das Klo Platz nahm.

Sophie war gerade dabei, der Mutter von ihrer Theater-AG zu erzählen.

„Stell dir vor Mama, vielleicht kann ich eine der Hauptrolle spielen.“

„Das ist ja…“, weiter kam ihre Mutter nicht. Claire hatte mit Vehemenz mit der Faust auf den Tisch geschlagen.

„Könnt ihr uns nicht wenigstens bei Tisch mit diesem Schwachsinn verschonen. Wen interessiert das schon.“

„Hast wohl deine Tage,“ gab Sophie mit sichtlicher Schadenfreude von sich.

„Fick dich,“ fauchte Claire zurück und zeigte der Schwester den Stinkefinger.

„Jetzt reichst aber.“ Bruno war sichtlich erbost. „Wenn ihr beide nicht in der Lage seid, euch wie Menschen zu benehmen, dann verkrümelt euch. Ich will hier in Ruhe zu Abend essen.“

Augenblicklich trat dieses Schweigen ein, dass Claire noch mehr hasste, als die Ausbrüche zwischen ihr und ihrer Schwester. Claires Mutter saß wie ein an Land geworfener Fisch mit weit geöffneten Augen da, schnappte mühsam nach Luft, versuchte die Fassung zu bewahren, was ihr sichtlich schwer fiel und ihr erst wieder gelang, als ihr ebenfalls geöffneter Mund die Worte „Möchte jemand etwas Brot?“ entleerte.

Dies war für Claire wie das Stichwort, geflüstert von jener Souffleuse, die sich für Zuschauer unbemerkt für die Protagonisten dieses abendlichen Familiendramas jedoch hörbar unter dem Tisch befand.

„Gnädige Mama,“ hob Claire mit gekünstelter Stimme an, „aber natürlich, mich verlangt nach einer leckeren, knusprigen Scheibe Ciabatta. Das wäre zu reizend von Ihnen.“

„Lass das…“, stammelte die Mutter.

„Jetzt reicht’s aber wirklich. Könnt ihr nicht eine Mahlzeit ohne eure gegenseitigen Keifereien auskommen.“

Daraufhin nahm Bruno seinen Teller und verschwand im Wohnzimmer. Demonstrativ schloss er die Tür hinter sich, was so viel hieß: „Lasst mich bloß in Ruhe.“

Sie alle kannten sein Verhalten. Keiner kam mehr auf die Idee, es für strategisch zu halten. Bruno wollte wirklich in Ruhe gelassen werden.

Wie lange würde es diesmal dauern. Claire führte Tagebuch darüber. Der Rekord lag bei 8 Stunden 15 Minuten ohne Klogang und 15 Stunden und 8 Minuten mit Klogang und Versorgungspausen in der Küche. Sie fand Brunos Verhalten letztlich kindisch, wenngleich auch sie sich bei dicker Luft in ihr Zimmer zurückzog. Aber Brunos Verhalten war mal wieder typisch Mann: übertrieben, egoistisch, ohne Mitgefühl für den Rest der Familie.

Von dem Tag an, als Claire ihren eigenen Fernseher bekam, war es ihr egal, wie lange Bruno das Wohnzimmer wieder blockieren musste und er damit das Sehen ihrer Lieblings-Soap unmöglich machte. Sollte er doch dort verschimmeln.

Claire stand kommentarlos auf. Sie hatte nicht zu Ende gegessen. Der Appetit war weg. Irgendwo in ihrem Zimmer hatte sie noch eine Tüte Chips gebunkert. Als Notration sollte dies bis zum nächsten Morgen genügen. Für heute hatte sie genug Familie konsumiert. Sie griff noch nach einer Flasche Wasser auf ihrem Weg durch die Küche und verschwand in ihrem Zimmer.

Sie hatte ihre Zimmertür noch nicht geschlossen, als sie vom Esszimmer her hören konnte, wie Sophie und ihre Mutter wieder im Gespräch verwickelt waren. So, als ob nicht vorgefallen sei. Manchmal hatte sie den Eindruck, neben beiden könnte die Welt einstürzen und sie würden bis zur letzten Sekunde immer weiterblubbern.

Für einen Augenblick kam Claire der Gedanke, sich noch auf den Weg zu Anna zu machen. Es war noch früh genug, um vom einen Ende der Stadt zum anderen zu gelangen. Sie verwarf den Gedanken jedoch. Sie war müde und wollte lieber alleine sein.

Ihr war auch nicht mehr danach, ihre Stimmung mit ihrem Tagebuch zu teilen.

Vom Bett aus schaltete sie den Fernseher ein. Zappte etwas gedankenverloren herum. Zwei der Spielfilme, die liefen kannte sie bereits. Ein weiterer weckte ihre Neugier.

Ein junger Mann lang im Krankenbett. Umgeben von Schläuchen und Apparaten. Es sah gar nicht gut um ihn aus. Eine junge Frau betrat mit besorgtem Blick das Krankenzimmer. Für Augenblicke stockte ihr Gang. Sie verharrte. In ihren Augen konnte man das blanke Entsetzen über den Zustand des Mannes sehen. War sie seine Freundin, oder gar seine Frau? Langsam kam sie dem Bett näher. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und ergriff zaghaft seine Hand. Die Kamera zeigte nur ihr Gesicht. Seitliche Totale. Die innere Regung der Frau ließ ihr Gesicht sichtlich beben. Versuchte sie, Fassung zu bewahren? Wofür? Der junge Mann schien von alledem sowieso nichts mitzubekommen. Ein Kameraschwenk zeigte für Sekunden seine reglose Hand in der ihren.

Keine schönen Hände, dachte Claire. Sieht ganz danach aus, dass er an seinen Nägeln kaut. Sie fand dies widerlich.

In der nächsten Einstellung war das zarte Gesicht der jungen Frau zu sehen. Sie konnte sehen, wie sie nach und nach jegliche Fassung verlor und heftig zu schluchzen anfing. Tränen vermischt mit Wimperntusche rannen der Schwerkraft folgend abwärts. In diesem Augenblick öffnete sich die Krankenzimmertür. Eine Schwester trat herein. Mit einem Blick und einer kurzen Kopfbewegung signalisierte sie der jungen Frau, dass sie sie zu sprechen wünschte.

Im Sprechzimmer begrüßte sie der Stationsarzt. Dieser berichte von der OP und von den Folgen des schweren Autounfalls. Der junge Mann wäre in Folge verschiedener Frakturen vom Hals abwärts gelähmt. Die Chancen, dass sich an diesem Befund noch etwas ändern würde, schätze er für sehr gering und eher vage ein.

Die junge Frau wirkte äußerlich gefasst. Schnitt. Nun war nur noch das Gesicht in der Totalen zu sehen. Ein Zucken auf ihrem Gesicht, ließ das innere Beben, welches die Prognose bei ihr ausgelöst haben mochte, erahnen. Verstärkt wurde dies durch das Heranzoomen ihre Augen, die blankes Entsetzen zeigten und gleichzeitig durch seitlich nach oben rollende Augäpfel den Eindruck erweckten, als verliere sie langsam ihr Bewusstsein.

Brutal wurde diese Filmsequenz unterbrochen von der folgenden Werbepause. Claire drückte selber leicht benommen von dem Gesehenen die Aus-Taste der Fernbedienung. Sie schloss die Augen.

Was würde sie tun? Würde sie ihrer großen Liebe treu bleiben? Claire gehörte zu jenen, die die eigenen Eltern vor Augen den Glauben an die Liebe ihres Lebens verloren hatte. Nicht ganz, aber doch konnte sie sich nicht so recht vorstellen, wie zwei Menschen über lange Zeit oder sogar lebenslang miteinander auskommen und glücklich sein konnten.

Unwillkürlich musste sie an ihre Erzeuger denken. Was hatte ihren Vater und ihre Mutter einst verbunden? Im Streit hatte ihre Mutter ihr im Alter von 12 Jahren eröffnet, dass sie nicht das lang ersehnte Wunschkind gewesen sei. Wenn ihre Mutter von der Zeit mit ihrem Erzeuger sprach, hatte sie stets den Eindruck, die verdanke ihre Existenz einem emotionalen Ausbruch, einer sexuellen Stimulans, die Mann und Frau bisweilen wie Magneten aufeinander treffen lässt.

Als ihre Mutter ihr dies vor nun gut drei Jahren eröffnete, war sie spontan auf Klo geeilt und hatte sich erst einmal übergeben. Der Versuch das Gehörte sogleich wieder auszukotzen misslang. Es folgte eine sehr unruhige und diffuse Zeit, eine Zeit in der Claire nicht mehr wusste wer sie war, was sie denken oder fühlen sollte. Fortan hasste sie ihre Mutter.

Manchmal wünschte sie sich, tot zu sein. Es war auch die Zeit, in der sie begann ihre Not in sich hineinzufressen. Selbst Anne konnte ihr in solchen Augenblicken, wenn die Worte der Mutter sich wieder ihres Bewusstseins bemächtigten, mit ihrer einfühlenden Art nur wenig helfen.

So wurde aus einer ehemals doch eher zierlichen Erscheinung ein „fettes Monstrum“ wie ihre Schwester sie fortan in gewissen Momenten nennen sollte. Außenstehende, die sie für längere Zeit nicht gesehen hatten, erkannten sie meist nicht wieder. Immerhin schien ihr eines gelungen zu sein. Rein äußerlich hatte sie mit der Claire von damals nichts gemein. Sie hatte sich geradezu unkenntlich gemacht. Sie hatte äußerlich erfolgreich einen Teil von sich getötet.