Claire erwachte erst gegen Mittag. Strahlen der grellen Mittagssonne fielen durch die Vorhänge auf ihr Bett. Eine gute Gelegenheit diesen sonnigen Sommertag mit Annes in den Flussauen zu nutzen. Sie würde sich gleich mit dem Fahrrad auf den Weg zu ihr machen. Nur schnell duschen, sich anziehen, Klamotten für Picknick packen und los.
Sie horchte. Es war ruhig. Anscheinend schliefen alle anderen noch. Oder, wer weiß was. War ihr auch egal. Sie wollte an einen so schön sonnigen Tag auf keinen Fall einen auf Familie machen. Das gestern Abend hatte ihr schon wieder gereicht. Im Nachhinein haderte sie noch mit sich. Warum hatte sie sich nicht schon gestern Abend auf den Weg zu Anne gemacht.
Als Claire ihr Portemonnaie vom Schreibtisch nahm, fiel ihr Blick auf einen Zettel auf ihrer Pinnwand. Sie hatte den Spruch vor einiger Zeit notiert:
Dies eine wissen wir,
wie doch alle Dinge
mit einander verbunden sind.
Was immer auf der Erde geschieht,
widerfährt allen,
die auf ihr wohnen.
Alle Menschen
sind in das Netz des Lebens eingewebt –
sie sind ein Faden unter unzähligen.
Wie gerne würde sie diese Verbundenheit hinter sich lassen können, eine Verbundenheit, die zweifelsohne ihre guten Seiten, aber auch Schattenseiten hatte.
Wenige Zeit später kam sie Treppe ins Erdgeschoss herab. Es war immer noch nichts von den anderen zu hören. Die Wohnzimmertür stand offen. Rekordversuch jämmerlich abgebrochen, dachte Claire bei sich.
Wo war denn das Telefon schon wieder. Claire hasste es, ständig danach suchen zu müssen. Die wenigen Male, in denen sie seine Dienste in Anspruch nehmen wollte, konnte es doch wenigstens an Ort und Stelle liegen, das heißt auf dem Schuhschrank in der Diele. Dort war es nicht. Im Wohnzimmer auch nicht. Dort roch es nur muffig. Typischer Altherrenmief. Sie hatte Mitleid mit den Zimmerpflanzen und öffnete die beiden großen Fenster.
Das tragbare Telefon fand sie endlich in der Küche. Wahrscheinlich hatte Sophie gestern noch eine ihrer gewohnten Telefonorgien gefeiert. Oder ihre Mutter hatte sich wieder einmal über ihren ach so unmöglichen Mann bei ihrer Schwester Trixi beschwert. Sie konnte diese Hasstiraden auf Bruno im Speziellen und die Männer im Allgemeinen nicht mehr hören.
Bruno war eigentlich ganz in Ordnung. Wenn er über die Jahre nicht versucht hätte, den Papa raus zu hängen. Sie hatte schließlich einen. Der hatte sich zwar bei Zeiten verpisst, aber immerhin. Sie stand nicht auf Ersatz. Schon gar nicht auf jemanden, der ständig glaubte ihr sagen zu müssen, was das Richtige für sie sei. Wer konnte dies besser wissen als sie selber. Das Erwachsene sich so ungeheuer schwer taten dies zu verstehen. Diese Unart, alles ausdiskutieren zu wollen. Mit fünfzehn nicht mit Anne und ein paar Freunden nach dem Feuerwerk in den Flussauen übernachten zu dürfen wurde nicht dadurch besser, dass man ihr dies zu erklären versuchte. Diese Nein war einfach scheiße. Daran konnten auch die Worte, die sich Bruno und Mama gegenseitig wie zwei Jongleure zuwarfen nichts ändern. Mit der Zeit hatte dies ohnehin nur dazu geführt vieles erst gar nicht zu erwähnen – selbst auf die Gefahr hin, dass es hinterher wieder dieses obligatorische Donnerwetter gab. Eine Art von Psychokater, den man getrost in Kauf nehmen konnte.
Und Bruno, wenn es ihn schon geben musste, ja dann hätte er doch einfach über die Jahre mehr ihr Freund sein sollen. Jeder Versuch, es ihrem Erzeuger nachzutun konnte doch nur scheitern. Dass es das bis heute nicht kapiert hatte. Er war doch sonst nicht der Dümmste.
Während sie die Nummer wählte, entdeckte sie einen Zettel auf dem Küchentisch. Auf ihm stand:
Sind mit Sophie los. Machen eine Radtour. Haben dich schlafen gelassen. Dachten, du hättest wahrscheinlich keine Lust. Sind heute gegen Abend wieder zu Hause. Im Kühlschrank steht was zu Essen. Dein Erzeuger hat übrigens angerufen. Er will seinen Geburtstag mit dir und mit den beiden WG-Homoboys feiern und wollte wissen, ob ihr Kinder kommt. Sophie hatte keine Lust. Kannst es dir ja überlegen. Gruß Mama
Auch das noch. Sie hatte ganz vergessen, dass ihr Vater heute Geburtstag hatte. Das passte ihr ja überhaupt nicht in den Kram. Sie dachte nach. Na ja, ganz so unmenschlich konnte sich nun doch nicht sein. Auf dem Weg zur Anne wäre es kein allzu großer Aufwand, mal eben bei ihm reinzuschauen.
Bei Anne meldete sich niemand. Wahrscheinlich hatte sie versucht, sie zu erreichen, als sie noch tief schlief. Und da sie keine Handy-Tussi sein wollte, war sie über Handy auch nicht zu erreichen.
Sie holte das Rad aus der Garage und machte sich auf den Weg. Es war schwül warm. Umso mehr genoss sie den Fahrtwind. Ihr knallroter Rock flatterte. Bald schon war ihre Spitzenunterhose Marke Liebestöter a la Großmutter zu sehen. Wie unschicklich dachte sie bei sich.
Vor einiger Zeit hatte ihre Mutter ihr noch versucht zu vermitteln, dass es vielleicht angemessener sei, auf Röcke beim Radfahren zu verzichten. Claire fand das mal wieder typisch und absolut oberspießig. Im Gegenteil, in ihrer Phantasie hatte sie gar nichts unter dem Rock an und schockierte die Passanten mit all dem, was der Fahrwind der Schwerkraft strotzend so freilegte. Herr Brückner der Besitzer des Gemüseladens von der Ecke, dieser geile Bock hätte sicherlich die reinste Freude daran.
Ihr Vater wohnte am Stadtrand. In einer Gegend mit alten etwas heruntergekommenen Villen. Die Wohlfahrt hatte hier ein Haus angemietet. In ihm waren zwei WG’s untergebracht. In einer lebte ihr Vater mit Fred und Ben, eigentlich Friedrich und Benjamin. Beide waren nicht nur schwul, sondern standen auf Abkürzungen. Alles Mögliche wurde, ohne dabei einer besonderen Regel zu folgen, von ihnen abgekürzt. So auch ihre Namen. Seit ihr Vater nach einem mehrmonatigen Aufenthalt die Landeskliniken verlassen hatte, lebte er nun mit Fred und Ben zusammen. Das Ganze hatte wohl den Sinn, dass er als Psycho mit zwei Normalos zusammenleben sollte, um dann vielleicht doch irgendwann wieder alleine leben zu können. So wie ihr Vater seit nun über drei Jahren immer noch drauf war, konnte sie sich dies aber kaum vorstellen. In der anderen WG lebte ein Normalo-Ehepaar zusammen mit ihren drei Pflegekindern. Bei ihnen war immer was los. Viel Leben in der Bude. Die drei Kinder strotzten so voller Lebensfreude und Tatendrang. Claire hatten sie besonders in ihr Herz geschlossen. Sie strahlten stets, wenn sie zu Besuch kam.
Sie bog am Bahndamm links ab und fuhr eine Zeit an ihm entlang. Hie und da begegneten ihr andere Radfahrer. Sie hoffte inständig nicht ihren Patchis, wie sie ihre Familie nannte, zu begegnen. Mit einem Mal fiel ein, dass sie gar nichts für ihren Vater zum Geburtstag dabei hatte. Sie sah sich am Wegesrand um. Blieb stehen, stellte ihr Rad ab und pflückte ein Strauß aus wilden Sommerblumen und Gräsern.