Freds unverkennbares Lachen war zu hören, als Claire in den Fußweg einbog, der durch den großen Vorgarten am Eingangsportal vorbei hinter das Haus führte. Hier saßen ihr Vater, Fred und Ben um den runden Gartentisch herum. Offensichtlich hatten sie erst vor kurzem gefrühstückt. Wahrscheinlich hatten sie bereits in den Geburtstag gefeiert und nach etwas feucht fröhlicherer Runde den Kater erst gegen Mittag vertreiben können.
Ihr Vater wirkte etwas nachdenklich. Sie kannte diese Anspannung von früher noch sehr gut. Meist hatte sie an der Körperhaltung ihres Vater, selbst von hinten betrachtet, erkennen können, wie es ihm ging. Und in der Zeit vor seiner Einweisung war es ihm immer schlechter gegangen, bis er schließlich allen – selbst ihr – aus dem Weg gegangen war. Sie hatte ihm bis heute nicht verziehen, dass er sie mit Sophie alleine bei ihrer Mutter gelassen hatte. Er hätte sie doch wenigstens mitnehmen können. Wenn es sein musste auch in die Klinik. Warum nicht, andere Kinder würden ja auch mit ihren Eltern reisen. Eine Zeit lang hatte sie sich gewünscht, ihr Vater wäre Botschafter in irgendeinem exotischen Land in der Karibik. Kuba, Trinidad, Haiti oder sonst wo. Sie könnte den ganzen lieben Tag am Strand mit den anderen einheimischen Kindern abhängen. Reine Phantasien. Claire wusste sehr früh, dass das Leben selbst an den schönsten Flecken dieser Erde meist alles andere als rosig war.
Erst als ihr Vater zu Fred und Ben zog hatte sie ihn wieder schallend lachend gehört. Ein so fettes Lachen, dass sie im ersten Augenblick ihren Ohren nicht trauen wollte und ganz gerührt war, überglücklich, dass ihr Vater nach Jahren der inneren Immigration, wieder hervor gekrochen war, wieder lebte und einfach nur lachen konnte. Manchmal über den kleinsten Scheiß, den Fred und Ben miteinander verzapften. Beide hatten überhaupt nichts Tuntiges an sich. Aber manchmal machten sie sich einen Spaß daraus, so zu wirken. Besonders Ben war ein meisterhafter Schauspieler. Er war einfach zum Schreien, wenn er sich mit seinen kreisenden Hüftbewegungen fortbewegte. Und dann noch die rechte Hand hob, das Handgelenkt leicht abwärts fallen ließ, leicht mit der Stimme quiekte und etwas übertrieben lasziv zu sprechen begann. Wenn man nicht bereits am Boden lag und sich vor Lachen krümmte und den Bauch hielt, dann geschah dies spätestens, wenn Fred abschließend in seiner unnachahmlichen Weise den Kopf nach hinten warf, ganz so als ob er eine Wahnsinns Mähne auf dem Kopf hätte und nicht Glatze tragen würde.
Ihr Vater sprang auf, als er sie sah und kam ihr entgegen. Für Sekunden lagen sie sich wortlos in den Armen. Sie genoss es bei allem Hass auf ihn, der sie bis in ihre Nächte verfolgte.
Etwas verlegen überreichte sie ihm den Blumenstrauß.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Papa.“
„Danke, meine Liebe.“ Er sah den Strauß an.
„Der Strauß ist wunderschön. Wo hast du den so schöne Blumen her?“
„Vom Bahndamm,“ antwortete Claire.
„Hast du Lust, mit uns noch zu Brunchen?“ Fred sah sie mit freundlichem Blick an.
„Etwas spät, ich weiß. Aber du weißt ja. Wenn die Herren feiern, dann wird es schon mal später. Wir haben nämlich gestern schon angefangen.“
„Gerne.“
„Sag mal Claire, kommt Sophia auch noch?“
„Nein,“ entgegnete Claire. „Sie hatte keine Lust.“
Für Augenblicke verzog sich das Gesicht ihres Vaters. Wie ein kurzer Windhauch. Dann kehrte sein Strahlen zurück.
„Komm, setz dich zu uns. Wir wollen uns durch nichts die Stimmung vermiesen lassen. Schließlich habe ich Geburtstag. Keinen runden, aber Geburtstag ist Geburtstag.“
Wie ihr Vater sie so ansah, merkte Claire gleich, dass etwas nicht ganz stimmte. Fragend sah sie Ben an.
„Ich glaube, dein Vater ist nicht ganz so gut drauf, wie er vorgibt. Die Psychotante war gestern da und hat etwas Druck gemacht. Sie ist der Meinung, deiner alter Herr könnte langsam in geordnete Verhältnisse zurückkehren. Das heißt, er soll demnächst in ein Appartement in die Innenstadt ziehen. Stimmst?“
Claires Vater nickte wortlos.
„Hey, was ist denn hier los.“ Fred kam aus der Küche wieder, ein weiteres Gedeck in den Händen.
„Ich habe Claire gerade erzählt, dass Max gestern Besuch hatte.“
„Oh, ja. Hast du auch erzählst, welch schreiendes Outfit Frau Schüller hatte?“
Wie auf Kommando mussten alle drei Männer losprusten.
Claire verbrachte den Rest des Tages bei ihnen. Es wurde viel gelacht. Und als sie sich in der Abenddämmerung auf den Rückweg machte, waren alle sichtlich angetrunken. Fred hatten im Laufe der Stunden bestimmt ein halbes Dutzend Mal eine neue Flasche mit diesem leckeren Prickelwasser entkorkt. Zudem fragte sie sich auf der Heimfahrt, wie viel Alkohol die drei nun wohl im Blut hatten.
Leicht schwankend, vielleicht doch eher schwebend erreichte sie die Toreinfahrt. Der Pickup von Bruno stand schon wieder in der Einfahrt. Was trieb die Männer heute zu immer großkotzigeren Autos?
Wie eine Einbrecherin betrat sie unbemerkt das Haus. Im Wohnzimmer brannte Licht. Von der Terrasse waren die Stimmen ihrer Mutter und die von Bruno zu hören. Ohne sich weiter bemerkbar machen zu wollen, ging sie direkt auf ihr Zimmer.
Claire zog sich aus, schloss das Fenster und legte sich zufrieden ihr Bett. Es dauerte nicht lange und sie schlief tief und fest.
Erst am nächsten Morgen kam sie dazu, Annes zwei SMS zu lesen:
„Hallo C. Wo bleibst du? Ist voll langweilig ohne dich. Nur Idioten hier… Lass mal von dir hören. A.“ Und Stunden später: „Ich geb’s auf. Du wirst nicht mehr kommen. Fahre nach H. Bis Morgen in der Sch. A.“