Claire begann zu frösteln.
Eigentlich war es recht mild. Die Sonne stand noch am Himmel.
Sie versuchte sich klar darüber zu werden, wie lange sie am Grab gesessen hatte. Sie schaute sich um. Keiner schien sie zu bemerken, oder wenn, dann nahm keiner besondere Notiz von dieser eigentümlichen Gestalt, die gedankenversunken da saß, wo sonst niemand sich niedersetzte.
Lang ist es her, dachte sie bei sich. So recht konnte sie es selbst nicht glauben, wie viele Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren. In Gedanken zählte sie nach. Es mussten mehr als dreißig Jahre her sein.
So viel Zeit war ins Land gegangen, ohne das sie je etwas von ihrem Vater gehört hatte, ohne dass sie das leiseste Interesse verspürt hätte, der Frage nachzugehen, was aus ihm geworden war.
Na ja, nicht ganz. In einem Anflug von emotionalen Gefühlen uns nostalgischen Gedanken hatte sie kurzzeitig versucht, nachzuforschen, wohin er eines Tages ohne jede Vorankündigung aufgebrochen und seither untergetaucht war. Aber das zählte nicht. Im Grunde hatten sich ihre Wege, seit jener peinliche Eskapade nie wieder gekreuzt.
Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie damit hadern sollte. Verwarf aber schnell diesen Gedanken. Es war, wie es war. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Schließlich hatte er sich aus dem Staub gemacht. Was ihn dazu getrieben hatte, sollte ihr auch nach so vielen Jahren egal sein. Wirklich?
Etwas neugierig war sie schon.
„Papa ist tot“, waren die Worte ihrer Mutter, als diese sie vor knapp einer Woche anrief.
„Na und!?“, war ihre erste Reaktion, für die sie sich schon aus Pietätsgründen gleich schämte.
„Nichts und… Die Botschaft hat seinen Leichnam überführt. Kommende Woche wird seine Beisetzung sein. Kommst du?“
Claire ging nicht auf die Frage ein. Sie wollte Zeit gewinnen, um sich klar darüber zu werden, ob sie wirklich zu dieser Veranstaltung kommen würde.
„Woran ist er gestorben? Hat es ihn dieses Mal tödlich erwischt?!“
„Claire, es reicht. Den Sarkasmus kannst du dir in diesem Zusammenhang sparen.“
„Mama, entschuldige, du hast Recht. Eigentlich sollte es mir auch egal sein, wie er zu Tode gekommen ist.“
„Er ist nicht zu Tode gekommen. Er ist an Krebs gestorben. Wie es scheint ziemlich qualvoll und jämmerlich.“
Für einen Augenblick entstand ein Schweigen zwischen ihnen. Es war offensichtlich alles gesagt.
„Ich melde mich, wenn ich weiß, wann die Beisetzung ist.“
„Mach das, ich werde sehen, ob ich komme.“
Lange hatte Claire in den folgenden Tagen überlegt, ob sie sich dieses Schauspiel wirklich antun sollte. Am Ende entschied sie sich, doch zur Beisetzung zu fahren. Vielleicht hatte sie nur gehofft, Ben und Fred wiederzusehen. Auf ein Wiedersehen mit ihrer Mutter hatte sie keine Lust. Und ihre Schwester, ach mit der hatte sie jeden Kontakt vor Jahren abgebrochen.
Der Beisetzung am Grab näherte sie sich erst von Ferne. Sie wollte sichergehen, dass Ben und Fred anwesend waren. Sie suchte nach ihnen unter den Trauergästen, erkannte aber nur Mutter und Schwester.
Sieht meiner Mutter ähnlich. Sie hatte es nie für gut befunden, dass sie beiden eine Zeit lang so herzlich verbunden war. Sie hielt Schwulsein damals für eine Krankheit. Wahrscheinlich hat sie sie gar nicht erst informiert, wenn sie überhaupt noch unter den Lebenden weilten.
Schade, dachte Claire. Ich hätte beide gern wiedergesehen. Im Nachhinein machte es sie traurig, dass sie mit dem Verschwinden ihres Vaters den Kontakt zu ihnen abgebrochen und später nie den Mut aufgebracht hatte, sie nochmals aufzusuchen.
Claire stand auf und spürte nun, wie ihre Hose feucht war. Sie klopfte sich Reste von Erde von ihrer Hose und verließ das Grab, ohne sich nochmals umzuschauen. Als sie auf dem Vorplatz des Friedhofes einem vorbeifahrenden Taxi zuwinkte, hoffte sie, das Kapitel ihres Erzeugers, wäre damit ein für alle Mal geschlossen. Innerlich spürte sie etwas anderes.