Spiegelungen VIII

Logo Spiegelungen

Claire wiederholte gerade die binomischen Formeln für die anstehende Mathearbeit, als sie durch einen Aufschrei ihrer Mutter aufgeschreckt wurde. Ihre Mutter war seit Tagen wieder unerträglich. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass Bruno nach dem legendären Picknick, welches offensichtlich kräftig in die Hose gegangen war, gar nicht erst mit nach Hause gekommen war. Warum und wieso, das wusste der Himmel. Ihre Mutter schwieg sich wie gewohnt aus. Probleme hatten und machten immer nur andere. Also, warum sollte man darüber reden. Selbst Claires Frage am nächsten Morgen, wo Bruno sei, wurde lediglich mit einem Achselzucken bedacht.

Eltern, dies hat Claire spätestens seid dem Beginn ihre Pubertät klar, waren manchmal schlimmer als kleine trotzige Kinder. Man durfte sie nur nicht daraufhin ansprechen. Schnell konnte es dann geschehen, dass streng dem Vorsatz folgend, das nicht ist, was nicht sein darf, eine neue Episode der elterlichen Machtspielchen ihren Anfang nahm.

Eltern?!

Erst jetzt merkte Claire, dass sie fairerweise ihre neuerliche Betrachtung eher auf ihre Mutter zu richten hatte, bei der sie nun seit Jahren lebte. Ihren Vater sah sie nun kaum noch regelmäßig. Gerade so wie ihr danach war. Aber genau dies war es, was sie ihm über die Jahre immer übler genommen hatte. Wie hatte er es zulassen können, wo er sie, ihre Mutter kennen musste und dieses Kennen doch wohl maßgeblich zur Trennung geführt hatte, wie hatte er es also zulassen können, sie dieser manchmal so furchtbar nervigen Person auszusetzen, ohne wenigstens hin und wieder durch seine Anwesenheit in ihrem Leben zu glänzen.

Der gestrige Tag war immerhin eine willkommene Abwechslung gewesen. Eine kleine Entschädigung für viel Abwesenheit und Gleichgültigkeit seinerseits, wie ihr schien.

Während sie dies dachte, war Claire aus ihrem Zimmer an die Treppe getreten. Sie lauschte. Und sah ihrer Mutter von oben zu, wie diese erregt den Telefonhörer in der einen Hand und mit der anderen wild gestikulierend im Flur auf und ab lief.

Früher, als es noch keine tragbaren Telefone gab, hatte Claire sie in vergleichbaren Situationen dabei beobachten können, wie sie auf der Stelle die wildesten Figuren machte, geradezu wie eine Ballerina an der Stange.

„Dieses Schwein“, war zu hören.

„Das sieht ihm ähnlich. Ich hätte es doch gleich am Anfang wissen müssen, dass er auch nicht anders ist, als …“

Hier wurde sie anscheinend auf der anderen Seite der Leitung unterbrochen. Claire stiegt langsam die Holzstufen hinab. Es folgte eine Phase des Schweigens. Ihre Mutter war für kurze Zeit offensichtlich ruhig gestellt. Von hinten konnte sie sie nicken sehen. Wow, dachte Claire. Wer kann das nur sein, der es schafft, Muttern mitten in Höchstform wieder herunter auf den Boden der Tatsachen zu holen.

„Ehrlich gesagt, ist es mir auch egal. Danke Fred, dass du angerufen hast. Aber glaube nicht, ich spiele jetzt die rührselige Krankenschwester. Der Zug ist lange abgefahren. Ich habe genug um die eigenen Ohren. Aber danke nochmals. Grüß Ben.“

„Mama,“ weiter kam Claire nicht, denn ihre Mutter hatte sich fürchterlich erschreckt, als sie sich umdrehte und zur Küche zurückgehen wollte und mit einem Mal Claire aus dem Nichts vor ihr stand.

„Spionierst du wieder rum? Was hast du mich erschreckt.“

„Gibst denn etwas zu spionieren. Ich habe von dem, was ich nach deinem Urschrei mitbekommen habe, nur Bahnhof verstanden. Ich wollte eigentlich in Ruhe Mathe lernen. Hab’ echt etwas Besseres zu tun, als deinen Ergüssen meine kostbare Zeit zu widmen.“

Claires giftige Bemerkung saß.

Ein Augenblick des Schweigens folgte.

Eigentlich war dies der Moment, den sie sonst als Abgang von der Bühne nach einer perfekten Inszenierung genutzt hätte. Die Neugier hielt sie jedoch zurück. Sie stimmte einen etwas versöhnlicheren Ton an.

„Wer hat denn gerade angerufen? Du klangst irgendwie besorgt.“

„Besorgt, ich. Wie kommst du denn darauf? Schon seit Jahren müsstest du wissen, dass mich nichts mehr sorgen kann, wenn es um deinen Vater geht.“

„Papa, was ist mit ihm?“

„Ach, nichts.“

„Nun sag schon.“

Claire war sichtlich besorgt.

„Ruf doch Fred an. Der soll dir die peinlichen Eskapaden deines Vaters direkt erzählen. Oder besucht ihn gleich, diesen…“

Weiter kam sie nicht. Sie unterließ es, auszusprechen, was ihr sonst eine Freude zu sein schien.

„Besuchen, wovon redest du eigentlich, Mama? Papa war gestern bei seinem Geburtstag noch wohl auf. Ganz im Gegenteil.“

„Ja, das kann ich mir denken. Die Männer sind doch alle gleich. Und jetzt liegt er, weil es ihm so geht im St. Franziskus-Hospital.“

Irrte sie sich.

Nein, Claire war sich ganz sicher, in der Stimme ihrer Mutter nun etwas anderes als Ärger zu hören. Es klang mehr nach… Schadenfreude!?

Claire war sich sicher, dass ein weiterer Versuch ihrer Mutter etwas zu entlocken, fehlschlagen würde. Sie griff zum Telefonhörer und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Sie wählte die Nummer von Fred und Ben. Es dauerte etwas bis sie Ben am anderen Ende hatte.

Was Claire im folgenden Telefonat mit Ben zu hören bekam, schlug bei ihr ein wie eine Bombe. Sie war mehr als schockiert. Ben hatte es vermieden auf Einzelheiten einzugehen. Was sie zu hören bekam, reiche aus. Der anfänglichen Sorge zu Beginn des Gesprächs war Ekel und Abscheu gewichen.

Wenngleich Claire ihrer Mutter in ihrem Urteil über ihren Vater nicht ganz folgen konnte, so war er doch wieder zu dem zusammengeschrumpft, was er für sie in den finstersten Momenten ihres bisherigen Lebens war: ihr Erzeuger. Sie schwor sich und dies nicht zum ersten Mal, dass sie ihn vorläufig nicht als mehr sehen wollte. Wie war das nur möglich, solch ein peinlichen Schauspiel? Insgeheim hoffte sie, dass keiner ihrer Freunde oder Bekannte je davon erfahren würde. Vor Scham würde sie dann nur noch in der Erde versinken können, oder müsste dann endlich das tun, was sie früher schon mal in besonders stressigen Momenten tun wollte: einfach abhauen von Zuhause. Was für ein Zuhause hatte sie eigentlich? Sie war an dem Punkt, es meistbietend im Internet zu versteigern.