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In den folgenden Tagen handelte Claire, als werde sie von geheimnisvoller Hand ferngesteuert.

Zunächst buchte sie ein Flugticket und sorgte dafür, dass eine Nachbarin in ihrer Abwesenheit nach der Wohnung sah. Sie bestellte die Zeitung ab, überwies die letzten Rechnungen per Internet und packte ihren Koffer. Ein Taxi brachte sie schließlich zum Flughafen.

Innerlich war sie sehr angespannt und ihr wurde mulmig beim Gedanken an das, was vor ihr lag. Noch wäre es Zeit gewesen, umzukehren, in das nächste Taxi zu steigen und sich nach Hause bringen zu lassen.

Dies dachte sie, als sie im Begriff war den Terminal 1 zu betreten. Ihr war nicht so recht klar, was sie von allem halten sollte, ob die Reise wirklich ihr eigenes Vorhaben war, oder eher als verrückte Idee abzuhaken sei.

Am Ende siegte wohl die Neugier.

Sie gab ihren Koffer am Schalter ab. Noch blieb ausreichend Zeit, in Ruhe irgendwo einen Kaffee zu trinken.

Während sie den Milchschaum ihres Cappuccino unterrührte beobachtete die Reisende. Viele waren mit ihren Angehörigen da, verabschiedeten sich herzlich, tauschten letzte Vertrautheiten aus.

Sie war allein. Seit vielen Jahren schon. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie es anders hätte sein können. Über all die Jahre bis heute war sie ganz in ihrer Arbeit aufgegangen. Sie hatte zu Berufsbeginn in der psychologischen Ambulanz angefangen. Nie hatte sie darüber nachgedacht, die Stelle zu wechseln. Konstanz war das, was sie gesucht hatte und was sie fand.

Die Arbeit füllte sie aus. Sie freute sich an den stets neuen Gesichtern. Die Patienten kamen und gingen. Einige blieben ihr über einen längeren Zeitraum erhalten.

Manches Mal hatte sie sich gefragt, was wohl gewesen wäre, wenn sie seinerzeit, als sie von Zuhause flüchtete, nicht direkt in einer Wohngruppe gelandet wäre, sondern erst einmal bei der psychologischen Ambulanz Hilfe gesucht hätte. Wäre ihr Leben anders verlaufen?

Es war müßig darüber nachzudenken. Jedes Wenn und Aber konnte den Gang der Dinge nicht mehr rückgängig machen.

Tatsache war, sie konnte zufrieden auf ihr Leben zurückschauen. In der gelebten Distanz zu ihrer Familie hatte sie zudem irgendwann Frieden mit ihrer Kindheit schließen können.

Eigentümlich war nur, dass sie ganz entgegen ihre Gewohnheit im Begriff war, eine Reise in die Vergangenheit zu machen. Nicht ganz, denn sie war ja im Hier und Jetzt unterwegs. Aber in das Land, in dem ihr Vater weite Teile seines Lebens verbracht hatte, zu reisen, hatte etwas Rückwärtsgewandtes.

Nachdem sie ihren Cappuccino bezahlt hatte, griff sie zu ihrem Handkoffer und machte sich auf den Weg zum Gate. Ihr kamen zwei Rucksacktouristinnen entgegen. Was hätte sie damals darum gegeben, mit ihrer besten Freundin Anna genau Dieses machen zu können. Als sie endlich alt genug dazu war, lebte sie längst in der Wohngruppe. In den Ferien ging es dort meist an die See in irgendein Selbstversorgerhaus. Es war nicht schlecht, aber nie dasselbe.

Was war nur aus Anna geworden? Sie hatten sich nach dem Einzug in die Wohngruppe und infolge des Umzugs in die Nachbarstadt aus den Augen verloren. Ob sie sie , wenn sie noch im Kontakt gestanden hätten, bei ihrem jetzigen Vorhaben begleitet hätte? Zwei alte Schachteln auf Alternativreise, dachte sie und musste schmunzeln.