Spiegelungen XI

Logo Spiegelungen

Die Maschine hob pünktlich ab und verschwand bald in einer dichten Wolkenschicht. Am Boden hatte es zu regnen begonnen. Aber so viel war sicher, bald schon würde man das schlechte Wetter hinter sich lassen und in der gewohnten Reisehöhe über allem dahingleiten.

Claire schaute aus ihrem Fenster und versuchte unter sich noch etwas zu erkennen. Vergeblich. Vielleicht würde sich das Wetter beim Flug über den europäischen Kontinent noch verändern, bevor die lange Strecke über den Atlantik begann. Für sie war es ihr erster Interkontinentalflug. Sie hatte es bisher immer vorgezogen, bei Reisen auf die bodennahen Transportmittel zurückzugreifen.

In der ersten Flugstunde erlaubte die Sicht den einen oder anderen freien Blick auf die Landschaft unter ihr. Gelegentlich konnte sie unter sich eine Stadt, kleine Ansammlungen von Häusern, Felder und Wälder erblicken. Sie war etwas verwundert, wie viele Sonnenkollektoren sie anhand ihrer Lichtreflexe ausmachen konnte. Erneuerbare Energie war deutlich im Vormarsch.

Mancher Lichtreflex war so stark, dass er sie so gar blendete und sie wegschauten musste. Sie fühlte sich an manche Schulstunde erinnert, in der sich in der Klasse ein heimlicher Wettbewerb entspann, wem es mit dem Glas der Armbanduhr gelang, das reflektierende einfallende Sonnenlicht als wandernden Punkt auf die Tafel zu projizieren.

„Hühnchen oder Pasta?“

Claire war eingenickt, als eine künstlich lächelnde Flugbegleiterin sie ansprach. Sie war so sehr in Gedanken gewesen, dass sie einen Augenblick brauchte, um sich zu orientieren, begriff aber dann, dass das Mittagessen gereicht wurde.

„Pasta“, antwortete sie, ohne weiter darüber nachzudenken.

Die Flugbegleiterin reichte ihr ein Tablett.

„Was möchten Sie trinken?“

„Ein Wasser bitte.“

Die Teigtaschen waren besser als erwartet. Hühnchen dagegen wäre für sie undenkbar gewesen. Jüngst hatte sie noch einen Beitrag über die Massentierhaltung gesehen. Seitdem hatte sich ihr Fleischkonsum noch weiter reduziert. Ehrlich gesagt vermisste sie nichts. Obwohl sie gerne an die Frikadellen oder Bratwürste in ihre Kindheit bei ihrer Großmutter zurückdachte.

Zum Nachtisch gab es ein kleines Küchelchen. Sie trank einen schwarzen Kaffee dazu, ohne Zucker und das obligatorische Milchpulver.

Der europäische Kontinent lag hinter ihnen. Der Blick aus dem Fenster ließ keine Orientierung mehr zu. Die Flugkarte auf dem kleinen Bildschirm vor ihr zeigte das Flugzeug irgendwo über dem Atlantik. Manchmal meinte sie, wenn sie hinunterschaute, dort wo sich diese gigantische Wassermasse ausbreiten musste, die Andeutung von Schaumkronen zu sehen. Ansonsten hätte sie alles auch für einen Teil des endlosen Himmels halten können.

Von der beachtlichen Geschwindigkeit, mit der sich das Flugzeug fortbewegte, war hier oben nicht zu spüren. Der Flug war ruhig, ohne Turbulenzen.

In der Flugkabine wurde es langsam ruhiger. Viele Passagiere schliefen, oder sahen einen Film. Claire zog es auch vor, die Augen zu schließen. Immerhin würde sie mit sechs Stunden Zeitunterschied landen, das heißt, im Endeffekt würden ihr für den heutigen Tag sechs weitere Stunden geschenkt. Es konnte nicht schaden, sich auf eine gefühlt durchgemachte Nacht vorzubereiten.

Als sie wieder erwachte, stand ein Bild für sie deutlich vor Augen. Sie war sich nicht sicher, ob sie gerade geträumt hatte, oder ob sich ein Gedanke als Bild im Augenblick des Aufwachens in ihr Bewusstsein gedrängt hatte.

Sie sah sich nochmals am Grab. Der Sarg war geöffnet. Ihr Vater sah sie lächelnd an und winkte ihr zu, so als wolle er damit ausdrücken: Komme zu mir. Leg dich zu mir. Wir haben uns viel zu erzählen.

Wie um sich etwas abzulenken, oder besser gesagt, um sich in die Wirklichkeit zurückzuholen, sah sie erneut aus dem Fenster. Der Blick war immer noch der gleiche.

Warum hatte sie nur so morbide Gedanken?

Ihr Vater war tot. Dies ließ sich nicht bezweifeln. Aber ihre Beziehung in den letzten Jahrzehnten im Grunde auch. Konnte es sein, dass ihr Vater sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als sie noch einmal zu Lebzeiten zu sehen.

Was hätte das gebracht?

Sie verwarf den Gedanken. Und doch, da war sie wieder diese Unruhe in ihr. Sie hatte sich nicht ohne Grund auf den Weg gemacht. Was erwartete sie von dieser Reise. Mehr als Neugier fiel ihr immer noch nicht ein.