„Dem Leben der anderen ein Form zu verleihen,
ihre Erlebnisse zu stehlen,
die immer wirr und ungeordnet sind,
und ihnen auf dem Papier eine Ordnung zu geben.“
Juan Gabriél Vásquez – Die Informanten
Claire las ihre letzten Notizen nochmals durch. Sie war fern davon, ein Buch zu schreiben. Ihre Gedanken notierte sie allein für sich, ungeordnet, ohne den Ansprach, literarisch Wertvolles zu fixieren. Das Geschriebene sollte ihr das Erinnern später erleichtern. Mehr nicht.
Gleichwohl ließen die Zeilen, die sie in ihrem Buch gelesen hatte, sie fragen, ob es irgendwann jemanden gäbe, dem ihre Aufzeichnungen irgendwann in die Hände fallen würden. Sie verwarf den Gedanken. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass es diese Person je geben könnte. Und wenn, dann solle sie doch nach Freuden ordnen, texten und dazu dichten.
Claire schloss das Notizheft. Dabei fiel ein altes Foto heraus. Es zeigte sie und ihren Vater am Bootssteg vor einer kleinen Jolle, zu jener Zeit, als sie im Begriff war ihren Segelschein zu machen. Ihr Vater hatte sich an Wochenenden gerne Zeit für sie genommen und war mit ihr an einen nahegelegenen See zum Segeln gefahren. Der See war eher mickrig, aber das spielte nicht die mindeste Rolle. Einfach Zeit mit ihrem Vater zu haben, reichte schon.
Sie fragte sich jetzt, warum sie das Foto überhaupt mitgenommen hatte. Aus sentimentalen Gefühlen konnte nicht sein. Vielleicht wollte sie sich einfach daran erinnern: Es hat ihn gegeben und nicht alles war schlecht gewesen.
Auf was für Schriftstücke meines Vaters werde ich stoßen, fragte sie sich als sie das Hotel am Morgen verließ. Sein Hab und Gut, war nicht verschickt worden. Es würde ihre Aufgabe sein, es zu sichten und dann… Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie erwartete und wonach ihr dann sein würde.
Auf ihrem Weg zum Museum, das sie besuchen wollte, kam sie an der Kathedrale vorbei. Sie war mäßig bevölkert. Einige Straßenverkäufer boten Fruchtsäfte und andere Kleinigkeiten zum Essen an.
Claire hatte spontan Appetit auf einen Becher mit Mangostreifen. Der Verkäufer beträufelte die Mangostreifen mit Zitronensaft und streute noch etwas Salz darüber. Letzteres irritierte sie, aber sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die Mango war nicht so reif und saftig, wie sie es sonst kannte, eher noch grün und hart. Der Geschmack hatte etwas Ungewohntes. Irgendwo hatte sie gelesen, dass dazu auch gern einen Aguardiente getrunken wurde. Es war zu früh am Tage, um den beliebten Schnaps aus Anis und Zuckerrohr zu kosten.
Sie setzte sich für eine Weile auf die Stufen, die hinauf zu Kathedrale führten und sah den flatternden Tauben zu. Sie waren auf der Suche nach Essbaren. Von den Futterverkäufern, die meist kleine Tüten mit Mais anboten, war nur ein Einziger auszumachen und dieser hatte gerade erst seinen kleinen Stand aufgebaut. Gut so, dachte Claire, ich mag eh keinen Tauben.
Das Museum zog Claire schon von Außen in den Bann. Es war in einem alten Kolonialhaus untergebracht, ein Haus mit einer wunderschönen Fassade, den im Obergeschoss üblichen kleinen Balkonen und im Innenbereich mit einem geschmackvoll angelegten Innenhof, einem Springbrunnen im Zentrum und Arkadengängen, die den kompletten Innenhof im Unter- und Obergeschoss einsäumten.
Als sie den ersten Ausstellungsraum betrat, viel ihr Blick auf ein Gemälde, das offensichtlich die Zerstörung einer Stadt durch ein schweres Erdbeben zeigte. Fassaden und Kirchtürme stürzten ein. Ziegel flogen vom Dach und Balkongeländer durch die Luft.
Wie immer bei Betrachten eines Gemäldes fragte sie sich weniger, wie der Künstler sein Bild maltechnisch umgesetzt hatte. Sie wollte ergründen, welches Thema dieser auf der Leinwand festzuhalten versucht hatte. Der Bildtitel, so hatte sie bisweilen den Eindruck, diente doch eher dazu, gerade davon abzulenken, oder bestenfalls zum Nachdenken anzuregen.
So stand sie da und betrachtete das Bild. Es war schlichter Maltechnik, fast schon als naiv zu bezeichnen. Kunstkenner mögen mir meine Einschätzung verzeihen, dachte sie. Und doch hatte es etwas. Die Uhr zeigte kurz nach drei. Menschen waren keine zu sehen. Hatte das Erbeben alle in der Nacht beim Schlafe überrascht. Ging es wirklich um die Folgen, die ein Erdbeben für Menschen haben konnte, oder waren die einstürzenden Bauwerke doch eher als Metapher gemeint. Wollte der Künstler den Blick auf etwas Anderes lenken. Wollte er unterschwellig die Frage stellen, auf welchen Grund unsere Lebenshäuser gebaut waren. Selbst die Gotteshäuser, fiel ihr auf, schienen dem Einsturz nicht strotzen zu können.
Was war der Grund auf den sie ihr Lebenshaus errichtet hatte? Familie offensichtlich nicht, denn von ihr hatte sie sich vor vielen Jahren nicht nur gelöst, sondern seither auch kein rechtes Bedürfnis mehr verspürt, Kontakte zu pflegen. Ihre Arbeit, war Grundlage für eine gesicherte Existenz. Mehr nicht. Freundschaften waren eher Mangelware und ohne Konstanz. Aber was dann? Sie dachte länger nach, ohne dass ihr wirklich etwas einfiel.
Gratuliere, werter Künstler, es ist dir gelungen. Du hast mir einen Spiegel vorgesetzt. Ich bin gekommen, um etwas in die zeitgeschichtliche Kunst des Landes einzutauchen und bin nun, ohne es zu wollen, mit mir selbst konfrontiert.
Claire sah sich etwas verstohlen um. Sie hatte den Eindruck, wenn jemand sie so sähe, würde er sie ganz und gar durchschauen können. Es war niemand zu sehen. Aus dem Nachbarraum hörte sie Stimmen. Fast schon fluchtartig verließ sie den Raum, kehrte zurück in den Innenhof und nahm auf einer Bank Platz. Wie konnte es sein, dass ein Bild solche Wirkung auf sie zeigte?
Sie nahm ihr Notizbuch aus ihrer Handtasche und notierte:
Worauf gründet mein Leben?
Was lässt mich leben?
Wofür lebe ich?
Hat mein Leben ein Ziel?
Gibt es etwas, was ich noch erreichen möchte?
Lauter Fragen, dachte sie, als sie leicht gereizt ihr Notizbuch zuschlug.