Spiegelungen XV

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Die Freude am Museumsbesuch war Claire vergangen. Sie verließ das Museum. Als sie auf die Straße trat, schaute sich um und entdeckte nicht weit entfernt einen Straßenverkäufer. Ein Kaffee würde sie sicherlich etwas erwärmen.

Der Straßenverkäufer begrüßte sie freundlich und fragte sie nach ihren Wünschen. Sie bestellte einen Kaffee ohne Zucker. Der Kaffee war mit jenem zuletzt im Café getrunkenen nicht zu vergleichen, aber erfüllte seinen Zweck ganz und gar. Und so schlecht schmeckte er auch nicht. Er war etwas dünn.

Neugierig betrachtete Claire das Angebot des Straßenverkäufers. Es war ein Sammelsurium aus Bonbons, Kaugummis, Zigaretten, kleinen verpackten Kuchenstücken, Keksen und anderem mehr. Der Stand war mobil und glich einem umgebauten Einkaufswagen mit zwei Ebenen. Die verschiedenen Thermoskannen mit Kaffee waren in der unteren Ebene untergebracht. An einer Ecke war der obligatorische Sonnenschirm gegen Regen und Sonne montiert.

„Le gustaría algo más?“

Der Zeigefinger des Straßenverkäufers zeigte auf den Verkaufswagen. Offensichtlich wollte er ihr noch etwas von seinen Waren anbieten. Claire schüttelte freundlich den Kopf.

„Tengo galletas deliciosas.“

Er griff zu einer kleinen Packung Kekse, schloss die Augen und tat so, als würde er den Geschmack der Kekse in sich aufsaugen.

„Muy rico!“

Claire griff in die Handtasche und gab ihm einen Geldschein, von dem sie glaubte, dass er ausreichen könnte. Der Straßenverkäufer lächelte und gab ihr die Kekse.

„Gracias!“

Sie bedanke sich und nahm die Kekse in Empfang.

„Un feliz día!“

Claire nickte zustimmend, steckte die Münzen des Wechselgeldes ein und machte sich auf den Weg zurück ins Museum. Irgendwie war sie neugierig noch andere Eindrücke aufzuschnappen.

Eine Zeit lang wandelte sie durch die Ausstellungsräume, wollte sich über die Exponate im Ganzen einen Überblick verschaffen.

Vor einem Bild blieb sie dann stehen. Es portraitierte eine Familie. Vater und Mutter mit ihren beiden Kindern, ihnen zu Füßen eine Katze. Sowohl die Personen wie die Katze waren überproportioniert. Was hatte den Künstler in seinem Werk zu diesem Stil gebracht. Wollte er dem Geschäft um künstlich erzeugte Proportionen an vielen Städten seines Landes durch sein Werk einen Spiegel vorhalten. Ästhetisch ist etwas Anderes, dachte Claire.

Beim genaueren Hinsehen entdeckte sie jenseits aller Überdimensionalität einige geradezu zierlich anmutende und durch die Luft fliegende Äpfel. Einen roten Strich über dem Kopf der Frau hielt sie zunächst für eine Schleife. Dann erkannte sie eine Schlange, die sich züngelnd von Hinten der Frau annäherte. Eine Anspielung als auf jene Szene im Garten Eden.

So, so, dachte sie. Was wollte der Künstler damit zum Ausdruck bringen? Ging es ihm um die Verführungen des Lebens im Allgemeinen?

Die Gesichter aller Familienmitglieder drückten eher Ratlosigkeit aus, nicht einmal Angst, ob der potentiellen Gefahr durch die sich nähernde Schlange. Kam die Verführerin also im Mantel der Ratlosigkeit daher? War Erkenntnis, auch jene zu unterscheiden, was gut und böse ist, nicht anders zu erlangen? Hatte sie immer den Preis, sich verführen zu lassen, wollte man nicht ratlos, sprich in Unkenntnis der Dinge, die einen umgaben, bleiben?

Die Familie war, dass wusste sie nur zu gut, keineswegs allein der Hort von Geborgenheit und Glück. Daran konnte kein noch so beschaulich arrangiertes Familienportrait etwas ändern. Irgendwann, so dachte sie, während sie die dicke, fette Pranke des Vaters betrachtete, irgendwann wird sich jedes Kind aus der dicksten Pranke befreien.

Vielleicht, so schoss es ihr mit einem Mal durch den Kopf, war es ja auch der verführerische Gedanke der Eltern, die der Künstler ansprechen wollte, zu glauben, man könne die Kinder nach eigenen Vorstellungen formen.

Ja, es könnte auch anders sein, überlegte Claire, als sie sich wieder vom Kunstwerk abwandte. So ist sie, die Kunst, sie konfrontiert, sie bringt Dinge zusammen, die widersprüchlich scheinen… und am Ende, lässt sie einen all zu oft ratlos zurück, mit sich selbst und den eigenen Fragen.

Chapeau! Hut ab, dachte sie sich, als sie das Museum verließ, sich nochmals umwandte und den Hut ziehend, den sich nicht hatte, verneigte.