Am nächsten Morgen brach Claire früh auf. Das Taxi erwartete sie schon, als sie mit ihrem Gepäck auf die Straße trat. Sie war gespannt auf die Landschaft, die sich jenseits der großen Stadt zeigen sollte.
Der Taxifahrer brachte sie zum Terminal de Buses. Dort würde sie in einen der kleinen Überlandbusse steigen. Die Dame an der Rezeption hatte ihr die Busverbindung herausgesucht. Die Fahrt würde je nach Verkehrslage zwischen vier und sechs Stunden dauern. Sie war schon lange nicht mehr so lange mit einem Bus unterwegs gewesen. Zuletzt bei einer Stufenfahrt in der Oberstufe.
Der Bus war gut besetzt. Claire hatte beim Einstieg einen Fensterplatz ergattern können und freute sich auf die Aussicht. Neben ihr nahm eine ältere Frau Platz, die, kaum hatte der Bus seine Fahrt begonnen, die Augen schloss und einschlief.
Die Fahrt durch die große Stadt ging zügig voran. In den Stadtvierteln, die sie durchfuhren, hatte das frühmorgendliche Leben längst begonnen. Viele Läden waren bereits geöffnet. Das rege Treiben auf den Bürgersteigen verbreitete dennoch Ruhe und Gelassenheit. Keiner schien es eilig zu haben.
Die morgendliche Sonne lag noch hinter dichten Wolken, als sie die Stadt verließen. Hinter der Stadtgrenze veränderte sich die Landschaft schlagartig. In gemächlicher Fahrt trottete der Bus den ersten Pass bergan. Ob der Busfahrer nicht anders konnte, oder ob er einfach seinen ruhigen Tag hatte, konnte Claire nicht ausmachen. Das wiederkehrende Zurückschalten in die kleineren Gänge ließ Ersteres vermuten.
Auf der Strecke stiegen hie und dort Reisende zu oder aus. Das gab ihr Gelegenheit, sich die kleineren Ortschaften und ihr buntes Treiben genauer anzusehen. Nachdem man den ersten Pass hinter sich gelassen hatte, schien es allmählich wärmer zu werden. Die Menschen, die auf der Fahrt am Rande der Straße wahrnahm, waren allen deutlich dünner angezogen. Auch die Luft im Bus wurde wärmer und damit stickiger.
Nach fast zwei Stunden Fahrzeit wurde die erste Pause eingelegt. Die Reisenden konnten aussteigen, sich die Beine Vertreten und in den kleinen Restaurants am Straßenrand eine Kleinigkeit essen und trinken.
Claire hatte auf Anraten der Rezeptionistin darauf verzichtet Proviant für die Fahrt mitzunehmen. Ihr war empfohlen worden, sich unterwegs zu versorgen. So betrat sie ein Restaurant und bestellte sich eine Cappuccino und ein Gebäck, das sie kaum aussprechen konnte, von dem sie aber gehört hatte, dass es lecker sein sollte.
Die Bedienung brachte ihr den Cappuccino und eine Almojabana. Sie schmeckte köstlich und da Claire noch nicht gefrühstückt hatte bestellte sie gleich noch eine, dazu noch einen frisch ausgepressten Mandarinensaft. Als sie zahlte kaufte sie noch eine Flasche Wasser sin gas. Als sie das Etikette betrachtete musste sich stocken. Sie hätte es wissen müssen und darauf achten sollen. Natürlich war das Wasser von jener weltweit vertretenen Firma abgefüllt worden, die sie Zuhause stets boykottierte. Nun ja, beim nächsten Mal, dachte sie und stieg in den Bus ein.
Bei der Weiterfahrt kam sie aus dem Stauen kaum noch heraus. Ihre Nachbarin schlief wieder. An Schlafen war für Claire nicht zu denken. Gelegentlich versuchte sie mit ihrem Handy etwas von ihrer Faszination für die einzigartige Berglandschaft festzuhalten.
Auch wenn der Bus in tiefere Regionen des Landes vorgedrungen war, glich die Fahrt einem steten Bergab und Bergauf. Die Vegetation hatte sich verändert. Claire meinte die ersten Bananenstauden auszumachen und andere Bäume, die Früchte trugen, die sie aber nicht zuordnen konnte. Allein die Mandarinen- und Orangenbäume konnte sie deutlich erkennen.
Sie kannte andere Bergregionen mit ihren Serpentinen, die sich mühsam die Bergketten hinauf- und hinabschlängelten. Hier war alles irgendwie anders. Nicht nur das Klima, das auch ohne Sonne angenehme Temperaturen bereithielt. Die Vegetation war von einer Üppigkeit, die kaum zu beschreiben war.
Die Orte, an denen sie vorbeifuhren, glichen bisweilen eher einer Ansammlung von Behausungen. Bei aller Schlichtheit hatte sie Charme. Es war die bunten Farben, die vielen Häusern, mochte sich noch so ärmlich sein, einen Glanz gaben. Es waren die bunten Blumen, in wiederum einfachen Behältnissen, die man bei der Blütenpracht aber kaum wahrnahm. Und es waren die Menschen, die auf ihren Stühlen vor ihren Häusern saßen und zufrieden dem vorbeifahrenden Verkehr zusahen.
Wann hatte sie zuletzt Autos bei der Vorbeifahrt zugeschaut? Dunkel konnte sie sich an die Faszination erinnern, wie sie manchen Sonntag mit ihrem Vater eine kleine Radtour zu einer einige Kilometer entfernten Autobahnbrücke gemacht hatte. Oft hatten sie ein Spiel gespielt, bei dem als Gewinn ein großes Eis in Aussicht gestellt wurde. Bei dem Spiel ging es darum, die Endziffer des Nummernschildes zu erraten, genauer zu tippen, ob das kommende Auto am Ende eine gerade oder ungerade Zahl hatte. Ihr Vater ließ sie meist gewinnen, wobei sie sich manches Mal fragte, wie das möglich war. Offensichtlich schaute er nicht selten einfach weg und erklärte mit Achselzucken: „Du, Claire, ich habe gerade nicht aufgepasst. Lass uns auf das nächste Auto warten.“