„Wer etwas auf sich hält, kann sich nicht leisten,
Zeit in Hülle und Fülle zu haben.
Nur beschäftigte Eile
verleiht die Aura der Bedeutsamkeit.“
Marianne Gronemeyer – Das Leben als letzte Gelegenheit
Auf der Fahrt musste der Busfahrer an verschiedene Baustelle anhalten. Dies führte immer wieder zu kürzeren oder längeren Staus. Es gab es Stellen, wo der letzte Regenguss für Erdrutsche gesorgt hatte. An anderen Stellen war die Straße durch den Schwerlastverkehr in einem so desolaten und nur noch im Schritttempo befahrbaren Zustand gewesen und wurde nun erneuert.
Straßenverkäufer die entlang der Strecke plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten, kündigten den nächsten Stau an. Sie boten das bekannte Sammelsurium an Waren an, das Claire schon von Staus in der großen Stadt kannte: Kaffee, Nüsse, Chips, Zigaretten, Handyladekabel, Spazierstöcke und anderes mehr. Hinzu kamen je nach Region spezifische Früchte, gelegentlich frisch ausgepresste Säfte und Kunsthandwerk. Manche von diesen Straßenverkäufern stiegen zu, boten ihre Ware feil und verließen nach einiger Zeit wieder den Bus.
Für Claire war es eine andere Welt. Sie schaute ihnen interessiert zu. In ihren Augen glichen sie in keinster Weise den vagabundierenden Händlern, die sie sonst aus den größeren Städten kannte. Es schien eher, als seien sie gerade aus ihren Häusern getreten und machten sich den Stau zu Nutze. Die Straße war ihr Arbeitgeber.
Hin und wieder begrüßte der Busfahrer einige von ihnen freundlich, unterhielt sich, fragte nach den Familien und tauschte sich über die letzten Fußballergebnisse aus, bevor er die Fahrt fortsetzen konnte. Mit einem herzlichen „Hasta luego! verabschiedete sich und hob die Hand zum Gruß.
Claire sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mittag. Ihr fehlte die zeitliche Orientierung. Sie konnte weder einschätzen wo sie waren, noch sagen, wie lange die Fahrt noch dauern würde. Es war ihr gleichgültig.
Eines hatte sie bereites nach wenigen Tagen begriffen: Wer in diesem Land auf Schnelligkeit setze, war tendenziell verloren. Das Land hatte etwas Entschleunigendes. Hier hatte alles noch seine Zeit, dachte sie, und versuchte sich Gedanken an die Zeilen in der Bibel zu erinnern.
„Alles hat seine Zeit… geboren werden hat seine Zeit… Sterben hat seine Zeit…“
Claire musste sich immer wieder konzentrieren, um sich an den Text zu erinnern. Sie kannte kaum einen Text aus der Bibel auswendig. Und doch, auch ohne festen Glauben hatte dieses alte Buch etwas Geheimnisvolles für sie behalten.
„Töten hat seine Zeit… Heilen hat seine Zeit… Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit… Suchen hat seine Zeit… Verlieren hat seine Zeit… Schweigen hat seine Zeit… Reden hat seine Zeit… Lieben hat seine Zeit… Hassen hat seine Zeit… Streit hat seine Zeit… Frieden hat seine Zeit…“
Sie spürte mit einem Male, wie ihr ein dicker Kloß im Hals das Atmen schwer machte. Ja, alles hatte seine Zeit. Sie nickte. Ihren Vater zu hassen hatte seine Zeit gehabt… und vielleicht war es nun Zeit für etwas Anderes. Sie spürte, sie war bereit dazu. Der Gedanke rührte sie und ließ ihre Augen feucht werden.
Als sie ihre Umgebung wieder wahrnahm, stand der Bus schon wieder im nächsten Stau. Sie zuckte mit den Schultern und dachte, na und. Die Fahrt schien etwas Heilsames zu haben. Wie sehr wurde sie sonst ungehalten, wenn sie im Stau steckten, musste ständig auf die Uhr schauen und verfluchte den Verkehr. Sie war erstaunt über sich selbst, wie unberührt sie all dies hier ließ. Es hatte fast den Anschein, als ließe sie jeder neue Stau weiter zu Ruhe kommen.
Die Zeit verging unbeirrt von allem, wie der Sand im Stundenglas unablässig abwärts ringt. Und doch und dies war etwas Neue für Claire, es hatte nichts Bedrohliches. Es galt nicht, wie sonst, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Kein Versuch durch räumliche Abkürzungen Zeit einzusparen. Kein Feilschen um Minuten und Sekunden. Die Zeit hatte mit einem Mal keine ökonomische Bedeutung mehr.
Welche Bedeutung hatte sie noch, fragte sich Claire, als sie auf der Straße einen Jungen mit einem Ball spielen sah. Sie war sich bewusst, dass schon viele kluge Geister sich über die Jahrhunderte genau darüber den Kopf zerbrochen hatten und im Versuch sie zu fassen, doch eher gescheitert waren. Sie hatte nichts Neues zu all diesen Erkenntnisse beizutragen. Nur dies eine Gefühl, das sie gerade Erfüllte: Zeit verliert an Bedeutung, wenn ich ganz im Augenblick aufgehen kann. Wenn ich mich nicht fragen muss, was eben noch war und bald schon sein wird. Wenn ich einfach nur sein kann.