Claire war eingenickt. In ihren Gedanken hatte sie die Augen geschlossen und gar nicht bemerkt, wie müde sie die Fahrt gemacht hatte.
Als der Bus ruckhaft anhielt, erwachte sie und versuchte sich zu orientieren. Es dauert einen Augenblick, bis sie wahrnahm, dass die Reisenden begonnen hatten, ihre Sachen zu greifen und nach und nach den Bus verließen.
Sie stieg als Letzte aus dem Bus. Die Hitze, die ihr entgegenkam, traf sie wie ein Schlag. Sie schnappte nach Luft. Sie sah sich um. Irgendwo musste es etwas Schatten geben. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie einen Baum. Den Schatten, den er warf, schien spärlich.
Die griff nach dem Koffer, den der Busfahrer ihr aus dem Laderaum freundlich entgegenreichte. Sie bedankte sich und ging los. Der Koffer ließ sich nur mühsam über die Schotterstraße bewegen. Immer wieder wurden seine Räder von kleinen Steinen gestoppt.
Endlich erreichte sie den Baum und setzte sich auf ihren Koffer. Sie spürte, wie kleine Rinnsale von Schweiß sich auf ihrem ganzen Körper abwärts liefen. Für einen kurzen Moment sehnte sie die Kühle der großen Stadt zurück.
Unerträglich diese Hitze, dachte sie. Sie überlegte ernsthaft, mit dem nächsten Bus zurückzufahren. Für heute war dies aussichtslos. Als sie nochmals zum Bus zurückging und den Busfahrer nach der nächsten Verbindung fragte, schaute dieser sie verwundert an.
„Mañana.“
Claire beschloss noch eine Weile im Schatten unter dem Baum zu verweilen, bevor sie sich auf diese Suche nach ihrer Unterkunft machte.
Neugierig beobachtete sie das Treiben auf der Straße. Einige Kinder fuhren mit ihren Rädern immer wieder an ihr vor. Am Straßenrand hielt ein Vater auf einem der hier üblichen Kleinkrafträder an. Familienausflug einmal anders, dachte sie. Das Kind hielt sich vorne sitzend am Lenkrad fest, während die Mutter offensichtlich erneut schwanger hinter ihrem Mann saß. Keiner von den Dreien trug einen Helm. Sie waren alle dünn bekleidet. Sie mochte sich nicht ausmalen, welche Folgen ein Unfall haben könnte.
Vor einer kleinen Tienda mit Namen „Tres Palomas“ saßen drei ältere Herren um einen Tisch. Vor ihnen standen jede Menge leere Flaschen. Claire kam auf gut zehn Flaschen. Auch sie verspürte mit einem Mal Durst. Die Flasche, die sie sich unterwegs gekauft hatte, war längst leer. Sie griff ihren Koffer und steuerte zielsicher auf die Tienda zu. Die Herren sahen auf, als sie das Rollen des Koffers auf dem Schotter hörten. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass die Männer spielten. Sie hatten jeder eine Anzahl Spielsteine vor sich. Sie fühlte sich an eine Art Domino erinnerte. Mit Wucht legte einer der Männer einen seiner Steine auf den Metalltisch. Eine Salve von Steinen folgte. Sie konnte gar nicht so schnell hinsehen. Am Ende reckte einer der Männer die rechte Hand zum Siegeszeichen und lachte schallend auf. Dabei zeigte er die wenigen Zähne, die ihm offensichtlich geblieben waren. Sein Lachen hatte etwas Diabolisches.
„Buenas tardes, señora!“, sagte alle fast gleichzeitig wie im Chor.
„Como le va?“, fügte der fast Zahnlose an.
Claire nickte und grüßte zurück. Sie nahm am kleinen Nachbartisch Platz und bestellte beim Mädchen, das sogleich aus der Tienda auf sie zukam, eine Gaseosa, wie man die Sprudelgetränke hier üblicherweise mit einem Sammelausdruck bezeichnete. Sie schaute sich interessiert das Etikett an. Der Name des Getränks war auf Glasflasche in einer veraltet wirkenden Schrift niedergeschrieben, über der ein blauer Adler abgebildet war. Das Etikett zeigte insgesamt die Farben der Landesflagge.
Als sie den ersten Schluck nahm und der unbekannte Geschmack auf ihrer Zunge lag, hielt sie kurz inne. Ziemlich süß, dachte sie. Wie sehr sich an diesen Geschmack gewöhnen würde, konnte sie noch nicht ahnen.
Der fast Zahnlose sah immer wieder vom Nachbartisch herüber. Einmal hob er seine Flasche und prostete ihr zu. Die Herren waren längst bei der nächsten Runde. Eine Fuhre von Flaschen hatte Natalia, so hieß das Mädchen aus der Tienda, vom Tisch geräumt. Sonst wäre ein Weiterspielen unmöglich geworden. Claire hob ihre fast leere Flasche und erwiderte das Salud.
Als Natalia ihr die zweite Flasche brachte, erkundigte sie sich bei ihr, nach ihrer Unterbringung. Sie reichte dem Mädchen einen Zettel, auf dem die Anschrift notiert war. Natalia las den Zettel und verschwand daraufhin auf der Straße. Claire schaute ihr irritiert nach. Als sie wiederkam, nickte sie wortlos, legten den Zettel zurück auf den Tisch und verschwand in der Tienda.
Wenig später hielt ein ziemlich heruntergekommenes Taxi an. Ein älterer Herr, von dem man denken konnte, er hätte besser seinen Führerschein vor Jahren schon abgegeben, lächelte ihr durch das hinunter gekurbelte Fenster zu und forderte Claire auf einzusteigen. Er selbst stieg aus, ging um den Wagen und war im Begriff, den Koffer zu greifen, als Natalia wieder auftauchte. Claire sah sie etwas hilflos an.
„Si, si!“, sagte diese nickend.
Claire zahlte und ging zögerlich zum Taxi. Der Koffer war längst im Kofferraum untergebracht. Nur nicht ohne mich losfahren, flehte sie innerlich. Was soll ich ohne meine Sachen hier am Ende der Welt machen? Der Taxifahrer schien etwas von ihrer Skepsis wahrzunehmen, stieg erneut aus und öffnete ihr eine der hinteren Türen. Claire stieg mit gemischten Gefühlen ein.
Im Innenraum des Taxis kam ihr ein eigentümlicher Duft entgegen. Der Taxifahrer wiederholte das Fahrziel und fuhr abrupt an. Die Reifen drehten auf der Schotterstraße etwas durch. Als Claire sich durch das Rückfenster umsah, konnte sie die winkende Natalia durch eine dichte Staubwolke kaum erkennen. Sie drehte sich zurück und versuchte sich etwas zu entspannen. Durch das geöffnete Fahrerfenster kam ihre eine angenehme wenn auch nicht besonders erfrischende Brise entgegen. Sie schloss die Augen. Wo führt das alles noch hin, fragte sie sich.
Nach circa 10 Minuten Fahrzeit, bog der Taxifahrer von der Straße ab. Claire wurde etwas mulmig zu Mute. Sie hatte Einiges von den Verhältnissen in diesem Land gehört, wollte aber nicht glauben, dass sie nun eine derjenigen sein sollte, der dergleichen passieren würde.