Unter uns,
die wir eingesperrt sind in den dunklen und engen Käfig,
den wir uns selbst gebaut haben
und den wir für die Gesamtheit des Universums halten,
gibt es nur wenige, die sich auch nur vorstellen können,
dass es eine andere Dimension der Wirklichkeit gibt.
Sogyal Rinpoche
Nach einer weiteren Fahrzeit von gut einer halben Stunde, blieb der Fahrer an einer Ansammlung von Häusern stehen und zeigte auf ein heruntergekommenes Haus. Es war in einem leuchtenden Gelb gestrichen und hatte einen kleinen Vorgarten, in der einige Pflanzen, etwas verlassen, wie Claire schien, ihr Dasein fristeten.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und gab dem Ganzen eine surreale Stimmung. Eine ältere Frau saß auf der kleinen Veranda in einem Schaukelstuhl, der sich sachte hin und her bewegte. Als sie den Taxifahrer erkannte, stand sie auf uns ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Claire, die ebenfalls ausgestiegen war, nahm sie zunächst nicht wahr. Wie sich später herausstellen sollte, hatte sie nicht mehr die besten Augen. Die alte Frau unterhielt sich eine Weile mit dem Taxifahrer, bis sie begriff, dass noch jemand mitgekommen war. Sie dreht sich um, ging auf Claire zu und umarmte sie zu Begrüßung.
Claire war von der Herzlichkeit der alten Frau überrascht, erwiderte die Umarmung aber gerne. Sie fühlte sich erinnert an Besuche bei ihrer Großmutter Frida.
„Me llamo Olga y tu?“
“Claire.”
Die alte Frau nahm Claire bei der Hand und führte sie ins Haus. Claire brauchte einen Augenblick um sich an das Dunkel im Haus zu gewöhnen. Das letzte Tageslicht, das durch die Eingangstür hineinfiel, konnte das Innere kaum noch erhellen. Erst als die alte Dame das Licht anmachte, konnte Claire Einzelheiten des Raumes, den sie betreten hatten erkennen. Er war schlicht eingerichtet. An der Wand stand ein Bett. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit vier Stühlen. Sonst machte Claire noch eine Vitrine aus, auf der ein Fernseher stand. An den Wänden waren einige Fotos und Bilder aufgehängt. Sie konnte sie nur schemenhaft sehen.
Zielstrebig führte die alte Dame Claire in ein angrenzendes Zimmer. Auch dieses Zimmer war kaum erleuchtet. Eine Glühbirne hing matt leuchtend von der Decke. Claire erkannte sofort, dass es sich um das Zimmer ihres verstorbenen Vaters handeln musste.
Alles schien unberührt. Man hätte den Eindruck haben können, ihr Vater sei eben mal aus dem Haus getreten und würde jeden Augenblick zurückkehren. Auf dem Stuhl, der vor einem kleinen Tisch stand, lagen mehrere Lagen an Kleidungsstücke übereinander. Auf dem Bord über dem Bett lag ein Notizbuch, ein Buch, dessen Titel sie nicht lesen konnte und etwas, dass nach einer Armbanduhr aussah. Den Bildrahmen, der auf dem Tisch stand nahm sie in die Hand und hielt ihn, um besser sehen zu können, ins Licht. Sie erkannte das Bild sofort wieder. Es zeigte sie und ihren Vater beim Segeln. Ihr wurde etwas flau in den Knien. Sie setzte sich auf das ungemachte Bett.
Nun nahm sie auch den Geruch im Raum wahr. Irgendwie roch es muffig. Das Fenster, so sah sie, war geschlossen. Sie stand auf und öffnete es. Von draußen drang die schwülwarme Abendluft herein.
Die alte Dame stand immer noch im Türrahmen.
„Mi casa es tu casa!“, sagte sie und verschwand im Dunkel des Nachbarraums.
Claire setzte sich erneut auf das Bett. Wie angewurzelt verharrte sie so, bis sie das Klirren von Töpfen hörte. Es ist Zeit zum Abendessen, dachte sie. Sie war froh sich darum heute nicht mehr kümmern zu müssen und war bereit alles zu essen, was ihr die alte Dame vorsetzen würde. Wie auf Kommando begann ihr Magen zu Knurren. Sei der 2. Rast am Mittag hatte sie nichts mehr gegessen. Nun war es bereits Abend und sie hatte mächtigen Hunger.
Hier also, war ihr Vater gelandet. Hier hatte er all die Jahre gelebt. Sie war gespannt, was das Tageslicht des nächsten Morgens noch zum Vorschein bringen würde.