Spiegelungen XX

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Am nächsten Morgen wurde Claire vom Hahnenschrei in der Nachbarschaft geweckt. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es noch reichlich früh zum Aufstehen war. So drehte sie sich nochmals im Bett um und schlief auch sogleich wieder ein.

Stunden später, es war schon nach zehn Uhr, versuchte sich die alte Frau zaghaft an der Tür bemerkbar zu machen. Claire hörte ihr bedachtes Klopfen erst nach einiger Zeit. Sie stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Verschlafen schaute sie die alte Frau an. Diese hatte ein Tablett mit einem für sie zubereiteten Frühstück in der Hand, wünschte einen guten Morgen und überreichte ihr das Tablett. Claire nahm es dankend entgegen.

Sie stellte das Tablett zunächst vorsichtig auf das zerwühlte Bett, machte den kleinen Schreibtisch etwas frei und setzte es dann dort ab. Ein angenehmer Kaffeeduft strömte in ihre Nase und erfrischte gleich ihre Sinne.

Claire nahm wahr, wie liebevoll die alte Frau das Frühstück zusammengestellt hatte. Zwei kleine Arepas lagen leicht gebuttert neben dem Rührei mit Tomaten und Zwiebeln. Eine kleine Schüssel enthielt verschiedene gewürfelte Obststücke. Dazu hatte die alte Frau ein Wasserglas mit offensichtlich frisch ausgepressten Mandarinensaft gestellt.

Danke für die Gastfreundlichkeit, sagte sie der alten Frau in Gedanken.

Während sie aß schaute sie hinaus in den Garten. Das Zimmer ihres Vaters lag nach hinten hinaus. Im Garten standen einige Mandarinenbäume. Einen Baumstamm glaubte sie als Stamm einer Papaya zu erkennen. Sie konnte die Krone nicht sehen, in der üblicherweise die Früchte wuchsen. Der Garten schien keine direkte Begrenzung aufzuweisen. Offensichtlich hatte keiner das Bedürfnis, sein Grundstück von dem des Nachbarn abzugrenzen. Zwischen zwei Baumstämmen, die sie nicht weiter erkannte, hing eine Hängematte. Sie hing wohl tagein und tagaus dort, war Sonne, Wind und Wetter ausgeliefert und schien von Ferne schon ihre besten Tage hinter sich zu haben. Claire nahm sich vor sie später auf ihre Tragfähigkeit zu inspizieren.

Nachdem sie zu Ende gefrühstückt hatte, brachte sie das Tablett in die Küche. Die alte Frau stand an der Spüle und zeigte mit einer Kopfbewegung, Claire solle das Tablett abstellen. Claire setzte es auf einem kleinen Beistelltisch ab. Dann schaute sie die alte Frau strahlend an und strich sich mit der rechten Handfläche kreisend über den Bauch, was so viel heißen sollte wie „Das Frühstück war wunderbar!“

Die alte Frau nickte. Claire fragte nach dem Bad und wurde von der alten Frau nach draußen in den Patio geführt. Dort kam ein Duschkopf aus der Wand. Ein Handtuch war bereits auf einem Plastikstuhl bereitgelegt, oben auf ein Stück Seife.

Claire ging zurück in das Zimmer ihres Vaters, zog ihr Nachthemd aus und ihren Morgenmantel über, nahm ihren Kulturbeutel und kehrte zurück ins Patio.

Das Wasser war lauwarm. Gerade richtig bei diesen Außentemperaturen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie im Freien duschte. Die Sonne, die ihr seitlich auf den Rücke fiel, erwärmte ihren Rücken angenehm. Sie stand noch länger da, schaute sich um, versuchte zu erkennen, was jenseits der Mauer, die das Patio begrenzte, zu sehen war. In nicht allzu weiter Ferne konnte sie einen Berghang ausmachen. Auch diesen wollte sie in Kürze erkunden.

Wie schnell doch die Unlust des gestrigen Abends verflogen war, wurde ihr klar, als sie zurück ins Zimmer ihres Vaters ging. Die alte Frau war verschwunden. Vielleicht saß sie auf ihrem Schaukelstuhl und schaute dem Treiben auf der Straße zu, oder, es hatte sich jemand zu ihre gesellt und nun war sie verstrickt in irgendein Gespräch.