Spiegelungen II,I

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Das „JA“, die Offenheit und die Liebe –

das sind die Schlüssel, die die Tür des Gefängnisses öffnen.

Arnaud Desjardins

Als Claire auf die Veranda trat, saß die alte Frau noch in ihrem Schaukelstuhl. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war offensichtlich eingenickt. Claire wollte sie nicht wecken und schlich sich leise an ihr vorbei.

Gefühlt hatten sich die Temperaturen zum Vorabend kaum abgekühlt. Die Hitze kam Claire wie ein kaum zu durchdringende Wand entgegen. Wie warm sollte es noch werden, dachte Claire. Sie ließ sich ohne festes Ziel treiben. Vorrangig war sie daran interessiert, die Eindrücke jener Umgebung in sich aufzunehmen, in der ihr Vater offensichtlich seine zweite Heimat gefunden hatte.

Es waren die Farben, die immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die Farben der bunt gestrichenen Hausfassaden wirkten in der Morgensonne noch intensiver. Es schien, als könne ein Eimer Farbe Mauerrisse oder bauliche Mängel überdecken. Vielleicht war dies die besondere Art der Menschen hier, dem Leben Farbe zu geben. Nicht alle Umstände und Verhältnisse ließen sich ändern. Aber dem Leben trotz allem Farbe und damit Glanz zu geben, dies war ein Versuch wert.

Claire war es gewohnt, dass viel Aufwand betrieben wurde, um Lebensumstände qualitativ zu verbessern, bzw. zu bewahren. Für den äußeren Schein zu einem Eimer Farbe zu greifen, dies war etwas für Stümper und Dilettanten. Ging es hier aber wirklich um den äußeren Schein? Wollten die Bewohner dieses Ortes sich und ihre Lebensumstände nach außen besser darstellen, als sie waren?

Während Claire darüber nachdachte und im Vorrübergehen das strahlenden Rot des Bougainvillea vor einem Haus bewunderte, fuhr einer jener kleinen Überlandbusse an ihr vorbei und wirbelte ein dichte Staubwolke hoch, die sie für Sekunden einhüllte und ihr das Atmen unmöglich machte. Intuitiv hielt sie die Luft an und atmete erst wieder tief ein, als sie die Staubwolke verzogen hatte.

Wenn es nicht um den äußeren Schein ging, worum dann. Vielleicht war es mehr die Einsicht, dass es Dinge gab, die zu verändern kaum der Mühe lohnten. Einen Eimer Farbe konnte man dagegen fast überall kaufen und die Freude über die frisch gestrichene Hausfassade konnte einem keiner mehr nehmen.

Wie sollte man diese Lebenshaltung nennen? Bescheidenheit… gar Weisheit… Einsicht in das, worauf sich zu konzentrieren lohnte… wenn man klar bekommen hatte, was nicht zu ändern war.

Es gibt nichts, was es nicht gibt.“

Mit einem Mal schoss Claire dieses Sprichwort durch den Kopf. Spontan schüttelte sie den Kopf. Mit dem Sprichwort wurde den Menschen doch nur vorgegaukelt, dass alles möglich sei.

Warum so negativ“, hörte sie ein Stimme in sich sagen.

Negativ! Ganz und gar nicht… Aber es ist doch fahrlässig und letztlich völlig weltfremd sich und anderen vorzumachen, man könne an gewissen Grundtatsachen und Gegebenheiten vorbeileben.

Die letzten Gedanken hatte sie laut und mit großer Inbrunst ausgesprochen und dabei sichtbar für Andere ihren Worten mit entsprechender Gestik und Mimik Ausdruck verliehen. Ein älterer Herr, den sie passierte, sah sie etwas verwundert an. Claire bemerkte ihn nicht. Sie war ganz in Gedanken.

Wie oft hatte sie in Beratungsgespräche diesen Satz gesagt und den Klienten damit Mut machen wollen, doch an das Unmögliche zu glauben und darauf hin zu arbeiten. Mit einem Mal bekam der Satz einen anderen Zusammenhang. Er klang für sie plötzlich ganz und gar hohl und nichtssagend. Ob dies Klienten auch so empfunden hatten, ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Und doch, wurde ihr klar, wäre es vielleicht ehrlicher gewesen, nicht alles für möglich zu halten. Das Leben konnte einen ja immer noch überraschen.

Der Satz, so spürte sie zum ersten Mal, war wie eine Art Gefängnis. Gerade dann, wenn es offensichtlich Dinge gab, die waren wie sie waren und sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr ändern würden. Auszuharren, geduldig den Dingen ihre Zeit zu lassen, konnte geboten sein. Genauso überlebensnotwendig konnte es aber auch sein, nicht vor der verschlossenen Tür zu verharren, sondern eine andere Tür zu öffnen. Es war doch gerade die Einsicht, dass nicht alles möglich war, die einen bewegen konnte, eine andere Tür zu öffnen.

Offenheit für das Leben konnte, so wurde ihr klar, auch bedeuten, sich manchen Dingen gegenüber zu verschließen. Ein JA also, das gleichzeitig ein Nein einschloss, ein NEIN, das Ausgangspunkt für ein JA war.