Spiegelungen II,II

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Als sie zurückkehrte, saß die alte Frau in ihrem Schaukelstuhl. Claire konnte nicht sagen, ob sie immer noch da saß, oder sich vor Kurzem erst wieder niedergesetzt hatte.

Sie schaute auf die Uhr. Es war früh am Nachmittag. Sie war einige Stunden unterwegs gewesen.

Die alte Frau sah sie mit einem fragenden Blick an.

Tienes hambre?“

Dabei wiederholte sie die über den Bauch kreisende Bewegung des Vormittags.

Si!“

Mehr brauchte Claire nicht zu sagen. Die alte Frau stand auf, zeigte auf den Schaukelstuhl und deute ihr an, sie solle sich niedersetzen und verschwand im Haus.

Claire verspürte leichte Müdigkeit und nahm die Einladung gerne an. In einem Schaukelstuhl hatte sie lange nicht mehr gesessen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal. Es musste in ihrer Kindheit bei irgendeinem Familienfest gewesen sein.

Mit einem leichten Vor- und Zurückgehen des Oberkörpers, versetzte Claire dem Schaukelstuhl einen leichten Schwung. Sie schloss die Augen. Hörte nur und nahm wahr, wie ein Taxi mit quietschenden Bremsen in der Nähe zum Anhalten kam.

Sie öffnete neugierig die Augen und suchte zu erkennen, ob es sich um den Taxifahrer vom Vortag handelte. Sie konnte ihn nur schwer ausmachen, glaubte den Wagen aber wieder zu erkennen. Als das Taxi wieder anfuhr und am Haus der alten Damen vorbeifuhr, erkannte sie den Taxifahrer. Er sah sie auf der Veranda sitzen und erhob kurz die Hand zum Gruß.

Auch bei gemäßigter Fahrt wirbelte der Wagen dichte Staubwolken auf. Claire wandte sich für Augenblicke ab, hielt sich die Hand vor den Mund und versuchte so lang wie möglich die Luft anzuhalten. Ein wenig zu lang, denn als sie wieder tief Luft holte, wurde ihr ein wenig schummrig. Sie schloss abermals die Augen und ließ sich zurückfallen. Dies versetzte den Schaukelstuhl erneut in Bewegung.

Das Schaukeln hatte etwas sehr Beruhigendes.

Für eine Weile musste sie eingenickt sein, denn irgendwann stand die alte Dame vor ihr und hielt ihr ein Glas Saft entgegen.

„Fresco!“

Die Frau ließ ihre Zunge kurz auf ihrer Lippe kreisen. Es folgte ein herzhaftes Lachen, das ihre wenigen Zähne zeigte, die ihren Ober- und Unterkiefer schmückten.

Claire nahm das Glas entgegen und bedankte sich mit einem Nicken. Sie lächelte.

Der Saft war milchig weiß und roch sehr fruchtig. Am Boden des Glases schwammen einige Fruchtkerne. Sie rührte den Saft mit dem Strohhalm noch einmal um, bevor sie den ersten Schluck nahm.

Der Saft schmeckte so gut, dass sie binnen weniger Augenblicken das Glas leergetrunken hatte. Die letzten Kerne schlürfte sie hörbar vom Boden.

Claire saß beim Italiener Giovanni ihrem Vater gegenüber. Sie saßen im Halbschatten unter einem Sonnenschirm an einem kleinen Bistrotisch. Beide hatten eine Pizza bestellt. Noch war der Gesprächsfaden nicht aufgenommen. Wie so oft herrschte anfangs ein verhaltenes Schweigen, bis irgendwann, meist durch eine belanglose Frage der Bann gebrochen war.

Claire griff zum Glas mit Orangensaft, das vor ihr stand. Sie hatte großen Durst, denn seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr getrunken. In einem Zug leerte sie das Glas, bis nur noch eine Pfütze den Boden bedeckte. Sie sog mit einem lauten Gluggern ein letztes Mal genüsslich am Strohhalm.

Ihr Vater sah sie augenzwinkernd an.

„Ich kenne niemanden, der so…“

„Was?!“

„Ach, du weißt schon…“

Claire sah, wie sich das Gesicht ihrer Vaters für einen kurzen Moment veränderte.

„Papa, was ist?“

„Ach, nichts.“

„Nun sag schon, du willst sonst von mir auch alles wissen.“

Ihr Vater holte tief Luft.

„Ich hab dich gerade vor mir gesehen, wie du früher als Kind stundenlang an einem Strohhalm herumkauen konntest… Ich will ja nicht sentimental werden… aber manchmal macht mich die Erinnerung an ein Gestern sehr traurig. Es gibt Tage, da könnte ich nur heulen.“

„Wegen mir?“

„Ach nein, meine Liebe, wie könnte ich… es ist, weil letztlich alles so anders gekommen ist.“

Claire sah ihren Vater an. Es fehlte nicht viel, dass wusste sie, und er würde zu weinen anfangen und dann müsste sie zwangsläufig mitheulen und das wollte sie gerade nicht.

Sie griff nach seiner Hand.

„Ich hab dich lieb, Papa. Und es schön, mit dir hier zu sein… Aber nun genug davon, ich habe einen Bärenhunger… Schau nur, unsere Pizzen kommen schon.“

Claire strahlte über das ganze Gesicht.

Die Alte Dame trat mit einem Tablett auf die Veranda. Erst jetzt sah Claire, dass sie einen kleinen Tisch in einer Ecke schon zum Mittagessen gedeckt hat. Sie stand auf und folgte der alten Dame an den Tisch.

Beide nahmen Platz.

Me llamo Olga.“

Die alte Frau hielt ihr ihr ein Trinkglas entgegen, offensichtlich eine Aufforderung sich gegenseitig zuzuprosten.

Gracias Olga… por todo!“

Mehr fiel Claire nicht ein. Sie hätte der alten Dame, nein Olga gerne mehr gesagt; ausgedrückt, wie glücklich sie war, hier zu sein; wie sehr sie sich freute und schätzte, so gastfreundlich und herzlich empfangen worden zu sein.

A tu salud!“

Claire nickte. Sie war gerührt.

Eine Weile hielt sie dem Blick der alten Dame stand. Ihr Gesicht wirkte angespannt. Und doch war es,   als sei innerlich von etwas ergriffen. Die Gesichtsmuskeln unter all den Falten verrieten ein leichtes Zucken.

Zum tinto saß Claire schon wieder im Schaukelstuhl und genoss die Schwere, die sich mit einem Mal so wohlig in ihr breit machte.