Wir werden dorthin gehen,
so sagt unser Körper,
und dort den Vater finden,
dem wir nie begegnet sind,
der in der Nacht, als wir geboren wurden,
hinaus in den Schneesturm ging
und danach sein Gedächtnis verlor
und er sich seither nach seinem Kinde sehnt,
das er nur einmal sah…
Wenn du die Lampe anzündest, wirst du ihn sehen.
Er sitzt dort, hinter der Tür…
den Blick so schwer, die Stirn so leicht…
einsam in seinem Körper, er wartet auf dich.
Robert Bly – Eisenhans
Claire betrat das Zimmer ihres Vaters. Eine Weile blieb sie im Türrahmen stehen. Sie sah sich um und ließ den Raum auf sich wirken.
Sie dachte an ihre eigene Wohnung, daran wie sie über die Jahre zu mehr als einer Behausung geworden war. Wenn sie abends nach der Arbeit in ihre Wohnung trat, kam ihr dieser vertraute Geruch entgegen. Jeder Raum hatte seine ganz persönliche Note. Ihr Bett war nicht einfach ein Bett. Zeitweise musste sie auf Dienstreisen, oder während eines Urlaubs in einem für sie fremden Bett schlafen. Aber die erste Nacht in ihrem eigenen Bett war ein geheimnisvolles Hineintauchen. Sie fühlte sich manchmal wie ein Vogel, der in sein Nest zurückkehrt und dort die gewohnte Geborgenheit findet.
Hier war alles so anders. Kaum etwas ließ erahnen, dass ihr Vater und nicht ein Fremder hier gelebt hatte. Wie hatte sich ihr Vater hier über all die Jahre wohl fühlen können, fragte sie sich. Vielleicht doch, aber auf seine Weise, gestand sie sich ein.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr ihr Vater doch ein Fremder für sie geworden war. War es je anders gewesen. Sie versuchte sich zu erinnern. Das Bild von ihrem Vater, das, was ihr bis heute geblieben war, begann zu verschwimmen, je mehr sie versuchte, sich bewusst an ihn zu erinnern.
Claire ging zum Bett und setzte sich nieder. Sie öffnete den Nachtisch. Es offenbarte eine Ansammlung von Dingen: ein altes Schweizer Taschenmesser; etwas, was nach einem Kompass aussah, einen völlig abgegriffenen Kugelschreiber; einige Notizhefte und allerlei kleine Gegenstände, die bekanntermaßen auf dem Weg in den Mülleimer für unbestimmte Zeit in solchen Schubladen Asyl fanden.
Sie griff zu einem der Notizhefte und begann zu blättern. Es schien sich um eine Art Tagebuch zu handeln. Die Notizen mussten offensichtlich aus der Anfangszeit ihres Vaters hier stammen.
Während des Blätterns fielen ihr drei zusammengefaltete Blätter heraus. Es waren Kopien, ein Ausdruck aus dem Internet. Sie faltete die Blätter auseinander und las die Überschrift „Eisenhans“, ein Märchen der Brüder Grimm stand darunter.
Sie legte die Kopie neben sich aufs Bett und begann die Aufzeichnung des Tages an der Stelle zu lesen, wo die Kopien herausgefallen waren.
Die Arbeit auf der Kaffeefinca ist immer noch beschwerlich. Mir schmerzen meine ganzen Glieder. Olga hat mir ein köstliches Abendmahl zubereitet. Nun sitze ich mit einem Bier auf der Veranda. Olga leistet mir in ihrem Schaukelstuhl Gesellschaft. Ich habe eben angefangen, das Märchen vom Eisenhans zu lesen. Es ist mir bis heute gänzlich unbekannt geblieben. Gleich von den ersten Zeilen hat es mich gepackt. Ich fühle mich an meine Kindheit erinnert. Ich war stets begierig, die Märchen der Gebrüder Grimm vorgelesen zu bekommen. Lag ich krank zu Bett, konnte mir das Vorlesen jeden Schmerz und alles Unwohlsein nehmen. Ich werde das Märchen in Etappen lesen, sparsam mit dieser Kostbarkeit umgehen. Denn ich kann nicht sagen, auf eine große Auswahl von Werken zurückgreifen zu können. Diese Märchen hat mir ein Freund aus der großen Stadt gesandt. Es kam als Postsendung mit dem Taxi und befand sich in einem alten braunen Umschlag. Ein kleiner Zettel mit einem Gruß war auch dabei:
Ich bin zufällig auf das Märchen gestoßen. Lies es und lass uns bei Gelegenheit mal darüber reden. Dein Günter
Ich versuche mir dieses Wesen mit dem rostigen Erscheinungsbild und der wilden Behaarung vorzustellen. Dieses wilde Wesen, so scheint mir, kommt irgendwie aus einer anderen Welt. Am Ende wird sich dieses Wesen wohlmöglich als verwunschener Prinz entpuppen. Ich frage mich nun, warum Günter mir dieses Märchen geschickt hat. Will er mit mir über sein wildes Mannsein reden. Soll er doch, aber warum braucht er dazu die Hilfe eines Märchens. Oder will er mich dazu bringen, über meine verborgene männliche Wildheit nachzudenken. Die Zeit des wilden Mannes ist doch passée. In der alten Welt habe ich zuletzt noch in einem Artikel lesen können, dass sich der enthaarte und eher zahme Mann bei den Frauen wachsender Beliebtheit erfreue. Damit kann und will ich nicht dienen. Mann bleibt schließlich Mann. Was immer das auch sein mag, kommt mir gerade. Vielleicht lohnt es ja doch darüber nachzudenken. Günter: 1:0 für dich.
Claire musste bei den letzten Zeilen schmunzeln. Hast du also die Ferne gesucht, um hier mal ungestört über dich als Mann nachdenken zu können. Das letzte, was ich von dir in Erinnerung habe, ist jene peinliche Episode an deinem letzten Geburtstag, bevor du dich aus dem Staub gemacht hast.
Olga war in den Türrahmen getreten und schaute Claire leicht verwundert an.
„Que pasó?“
Nichts ist passiert, dacht Claire und schüttelte den Kopf. Erst jetzt merkte sie, dass sie ihren inneren Monolog offensichtlich laut ausgesprochen hatte.
Olga lächelte verständnisvoll und zog sich zurück. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich beide so verständigen konnten, dass ihre Kommunikation nicht ständig irgendwo abreißen musste und im Nichts endete.
Claire legte das Notizheft zurück in die Schublade. Sie beschloss früh schlafen zu gehen. Von Ferne war aus der Nachbarschaft Hundegebell zu hören.