Unsere Welt, die Welt unseres Erlebens und Handelns,
besteht in sich jeweils ausschließenden Gegensätzen.
Bei jeder Handlung, bei jedem Erleben
ist unvermeidlich das Gegenteil dessen ausgegrenzt,
was seinen aktuellen Sinn ausmacht.
Gerhard Sauter – Was heißt nach Sinn fragen?
Claire schlief in der Nacht unruhig.
Träumend fand sie sich auf einem Friedhof wieder. Eine endlose Zeit suchte und suchte sie das Grab einer bestimmten Person, konnte sich aber weder an die Person noch ihren Namen erinnern. Eine alte Frau, die ihr Hin- und Hergehen beobachtete, nahm sie irgendwann freundlich an die Hand und führte sie an ein geöffnetes Grab. Als Claire in das Grab hinabsah konnte sie sehen, wie der Deckel des Sarges offen stand. Im Sarg ein gesichtsloser Leichnam. Sie erschauderte. Als sie dorthin wandte, wo die alte Frau eben noch gestanden hatte, war diese plötzlich wieder verschwunden.
Claire erwachte mit klopfendem Herzen. Sie richtete sich auf und versuchte Orientierung zu finden. Es dauerte eine Weile, bis sie klar hatte, wo sie sich gerade befand.
Sie knipste die Nachtischlampe an und trat ans Fenster. Der Mond stand hell am Himmel und erhellte den Garten. Ihr kam ein altes Gedicht in den Sinn:
dunkel
lagst du vor mir
in der nacht
als ich endlos
an deinem ufer saß
bis der schein
des mondes
sich auf dein stilles wasser
legte
mir war
als würden
durch den lichtschein geweckt
in windeseile
gestalten
kaum wahrnehmbar
der tiefe entsteigen
um in der dunkelheit des waldes
unbemerkt zu enteilen
Im Garten nahm Claire eine Schatten war, der zwischen den Mandarinenbäumen hinweghuschte. Sie erschrak und trat spontan zurück.
Erst jetzt wurde ihr mit einem Mal klar, was Olga ihr vor dem Zubettgehen am Abend zu erklären versucht hatte. Dabei hatte sie immer wieder den Namen ihres Vaters genannt.
„Ans llegará, seguramente!“
Dabei hatte sie mit den Armen wild gestikuliert und leicht verstört gewirkt. Offensichtlich wollte Olga ihr etwas mitteilen.
Als wieder ans Fenster trat, war nichts Sonderbares war zu erkennen. Sie schüttelte den Kopf und gestand sich ein, dass ihre Phantasie wohl mit ihr durchgegangen sei.
Noch lange lag Claire wach und aufgekratzt im Bett. Erinnerungen kamen und gingen.
Sie sah sich mit einem Mal wieder als Studentin in einer theologischen Vorlesung sitzen. Während des Studiums hatte sie gerne auch Vorlesungen anderer Fachbereiche besucht. So jene mit dem ansprechenden Titel „Der Mensch fragt nach Sinn – Sinnsuche und Sinngebung“. Allerlei Wortbedeutungszusammenhänge hatte der Professor damals am Anfang der Vorlesung entfaltet.
Eine war ihr noch gut in Erinnerung: Sinn als eine Art der Wahrnehmung. Oder das, worauf unsere Wahrnehmung gerichtet ist. So wie das lateinische sentire „einer Richtung nachgehen“ bedeutet. Sinn sei also das, worauf die Wahrnehmung beruhe und was wir gedanklich erfassen. Damit sei Sinn nie eine absolute Kategorie. So wie der Mensch in Bewegung sei, so sei auch das, was ihm im Leben als sinnvoll erscheine im Fluss.
So ein Unsinn, hatte sie früher schnell gedacht, wenn sich spontan etwas ihrem Verstehen entzog. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Es war doch allzu einfach, sich gedanklich über andere zu erheben. Wie konnte sie wirklich erahnen, was andere dachten und fühlten.
Ja, wenn sie ehrlich war, was wusste sie wirklich über ihren Vater. Was konnte sie wirklich über ihn sagen, was nicht von ihrer sehr eingeschränkten eigenen Wahrnehmung gesteuert war.
Claire nahm sich vor, in den kommenden Tage alles zu unternehmen, um der Person ihres Vaters auf andere und vielleicht ganz und gar neue Weise begegnen zu können.
Sie spürte, wie neuerlich Neugier in ihr hochkam. Sie wollte wahrnehmen und an sich heran lassen, was ihr im Begriff war entgegenzukommen. Selbst auf die Gefahr hin, dass sich etwas für sie dabei verändern würde.
Bald darauf fiel sie in einen tiefen und festen Schlaf, aus dem sie ersten gegen Mittag wieder erwachte, als die Sonne längst schon hoch am Himmel stand und die tägliche Betriebsamkeit des Ortes in vollem Gange war.