Claire kniff die Augen zu, als sie an Fenster trat und aus dem Fenster sah. Der Garten lag im gleißenden Licht der Mittagssonne.
In einem der Mandarinenbäume erblickte sie einen roten Fleck. Erst als dieser sich bewegte, erkannte sie einen Vogel. Er fiel durch sein wunderschönes tiefrotes Gefieder auf. Claire blieb eine Weile reglos am Fenster stehen. Sie war fasziniert von diesem Vogel. Dann flog er davon.
In der Hoffnung ihn vielleicht nochmals wieder entdecken zu können verließ sie das Zimmer und eilte in den Garten. Sie schaute sich um, konnte ihn aber nicht wiederentdecken.
Sie griff zu einer reifen Mandarine und begann sie zu schälen. Ein intensiver Duft strömte ihr entgegen. Voller Heißhunger verschlang sie ein Stück nach dem anderen. Dabei spukte sie die zahlreichen Kerne im hohen Bogen aus.
Mit der zweiten Mandarine setzte sie sich auf den völlig ausgetrockneten Rasen, dessen Farbe eher verbrannter Erde glich.
In der Nähe konnte sie das lebhafte Gezwitscher zweier Kanarienvögel ausmachen. Einer von beiden saß in der Krone des nahegelegenen Papayabaumes. Die Früchte hingen wie Pfropfen an diesem dünnen, circa drei bis vier Meter in den Himmel ragenden Stamm. Sie fragte sich, wie es den Früchten mit zunehmender Schwere gelang, am Stamm zu bleiben. Sie versuchte die Anzahl der Früchte zu schätzen. Es waren sicherlich gut zwanzig Früchte. Manche von diesen baumartigen Pflanzen, so hatte sie gelesen, würden eine Höhe von bis zu zehn Metern erreichen. Sie würde Olga fragen, wie es möglich sei, die reifen Papayas von höheren Pflanzen zu ernten.
Claire ließ sich zurückfallen und schaute in den Himmel. Er war fast wolkenlos. Durch sein intensives Blau wirkte das Grün der Pflanzen und Blätter noch intensiver.
Claire lag auf der ausgebreiteten Picknickdecke und musste sich erst einmal ausruhen. Die bislang gut zweistündige Radtour hatte sie sichtlich außer Atem gebracht.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte ihr Vater sie.
Er nahm neben ihr Platz.
„Ich habe auch etwas Brot, Käse und Obst mitgenommen. Hast du Hunger.“
Claire nickte, woraufhin ihr Vater den Rucksack öffnete und alles vor ihr ausbreitete.
Sie nahm erst einmal einen kräftigen Schluck von der Apfelschorle. Dann biss sie in ein Stück Baguette und steckte dazu ein Stück Käse in den Mund. Sie liebte es, mit ihrem Vater unterwegs zu sein. Er verstand es stets, ein geschmackvolles Picknick zusammenzustellen. Und meist hatte er zum sogenannten Nachtisch irgendeine kleine Überraschung. Sie war gespannt, was es heute sein würde.
„Was für Obst hast du heute mit, Papa?“, wollte Claire wissen.
„Mandarinen.“
„Kannst du mir eine schälen?“
„Gerne.“
Ihr Vater schälte eine Mandarine und befreite sie von allen auch noch so kleinen weißen Fruchtfasern. Sie mochte es ganz und gar nicht, wenn sich einer dieser in ihren Zähnen verfing.
Zum Nachtisch lockte eine jener Schokokugeln, die sie so sehr liebte.
Als Claire in das Zimmer ihres Vaters zurückkehrte, legte sie sich erneut im Bett nieder. Der erste Hunger war gestillt und sie wollte, bevor sie aufstand, noch etwas in den Aufzeichnungen ihres Vaters blättern. Die nächsten Zeilen packten sie.
Ich merke, dass ich nicht zum Tagebuchschreiber tauge. Was soll’s. Es ist mir irgendwie suspekt, jeden Tag aufs neue zu überlegen, was wert ist, festgehalten zu werden. Heute hat mich doch tatsächlich Günter besucht. Der hat ganz schön sparsam geschaut, als er mein Zimmer sah. Er war von Olga und ihrer Gastlichkeit sehr angetan. Wir haben bis tief in die Nacht auf der Veranda gesessen und über den Eisenhans gesprochen. Eigenartig, dass ein Thema, das längst abgehakt schien, uns beide so gepackt hat. Ich bin froh, das Günter mich damit konfrontiert hat. Es scheint doch ein Thema so recht für jedes Lebensalter. Eine wichtige Erkenntnis des Abends: Eisenhans ist so ganz und gar nicht eine Frau. Wie können Männer immer wieder glauben, auf der Suche nach ihrer verlorenen Kugel könnte eine Frau hilfreich sein. Wohin das Nachdenken noch führen soll, ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Habe kaum vor, mich hier in der Fremde, die doch immer mehr mein neues Zuhause wird, neu zu binden. Erkenntnis Nummer zwei: Der Eisenhans ist nicht in uns. Wo und wie ihm dann begegnen. Ich versuche mich an die männlichen Wesen meines Lebens zu erinnern: Vater, Großväterer, ja und da waren auch der eine oder andere Onkel, Lehrer und… Was für ein Bild vom Mannsein haben sie mir mitgegeben, vermittelt? Zunächst und zu allererst das des Versorgers und Ernährers; vielleicht noch das des Familienoberhauptes, obwohl dieses Bild, als ich älter wurde, schon merklich zu bröckeln begann. Helden des großen Krieges für das neue tausendjährige Reich hatten wir keine in der Familie. Besser so, habe ich im Nachhinein oft gedacht. Wobei, gegen einen Widerstandskämpfer wäre nichts einzuwenden gewesen. Träumt nicht jeder Junge davon zu einem wahrhaften Helden hochschauen zu können, bevor er selbst einer wird. Mein eigenes Heldentum nimmt sich doch eher sparsam aus, oder ist früh verkümmert. Am Ende hat mir Günter einen Text von sich vorgelesen. Er hat mich tief bewegt.
ich habe meinen finger hinabgetaucht
in das wasser des brunnens
was als verboten galt
habe ich dennoch gewagt
der finger schmerzte mich
und ich suchte nach linderung
was mich
zum brunnen gehen ließ
ich weiß es nicht
wer mich führte ebensowenig
auch nicht
wer mir den weg wies
die versuchung den finger
mit wasser zu benetzen war groß
ich konnte ihr zunächst noch widerstehn
doch dann schmerzte der finger so sehr
dass ich ihn unwillkürlich ins wasser steckte
was geschah
war erstaunlich und wundersam zugleich
der finger schmerzte mit einem mal nicht mehr
war aber von stund an vergoldet
ich wußte nicht so recht
wie mir geschah
seit jener stunde spüre ich
wie sich regionen
in mir
in gold
verwandelt haben
sie strahlen, leuchten
geben mir ein gefühl
von unendlicher freiheit
verbundenheit und geborgenheit
größe und liebe
Claire legte das Notizbuch beiseite. Sie atmete schwer. Ihr war leicht schwindelig bei den letzten Worten geworden. Etwas ganz Neues tat sich in ihr auf: die Erkenntnis, dass Männer anders, als sie es so oft selbst in jungen Jahren gedacht, gesagt, oder manchmal sogar erlebt hatte, nicht nur schwanzgesteuerte Wesen waren.
Sie entnahm den Zeilen so viel Gefühl und gleichzeitig so etwas wie Stärke. Eine Stärke, die so ganz anders war, als die Stärker der Machthaber und Despoten, die bis heute die Welt bevölkerten und ihr Unwesen trieben.