Spiegelungen II,VI

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Violett verbindet Sinnlichkeit und Geist,

Gefühl und Verstand,

Liebe und Entsagung.

In der indischen Symbolik ist Violett

die Farbe der Seelenwanderung.

Eva Heller – Wie Farben wirken

In Claires Hand lag eine Bougainvilleblüte. Ihre intensive Farbe, ein blasses Violett, war ein starker Kontrast in der hellhäutigen Handinnenfläche. Die drei Blätter dieser Drillingsblume glichen zartem Seidenpapier und waren so kunstvoll angeordnet, dass sie ausreichend Platz ließen für die drei Blütenständer. Ein blassgelber Blütensaum ließ im Inneren drei Fruchtknoten erkennen.

Ehrfurcht ergriff Claire. Sie war ganz und gar gefangen von dem Anblick, der sich ihr bot. In sich spürte sie einen leichten Stich. Kaum wahrnehmbar, schien etwas von ihr Besitz zu ergreifen.

Sie nahm die Blüte zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie hin und her. Diese Blüte hatte etwas Erhabenes. Sie war angerührt von diesem kleinen Wunderwerk der Natur.

Claire lag im tiefen Gras des Parks. Für einen Augenblick hatte sie die Augen geschlossen und nahm nicht war, wie sich ihr Vater neben sie gesetzt hatte. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie ihn. Sein freundlicher Blick ließ sie lächeln. Sie erhob ihren Oberkörper, streckte die Arme aus und umarmte ihn. Er erwiderte ihre Umarmung. Sie spürte den leichten Druck seiner Umarmung. Innerlich ließ sie sich fallen und genoss die Nähe und Geborgenheit. Sie wünschte, dieser Augenblick würde nie enden.

„Was hast du in der Hand?“, fragte er sie.

Sie öffnete die Faust ihrer linken Hand und zum Vorschein kam eine Margeritenblüte.

„Bist du verliebt?“

Claire konnte sich den Anflug eines Lächelns nicht verkneifen. Eltern, dachte sie, sie müssen doch immer alles wissen. Heute jedoch war sie milde gestimmt. Dennoch wollte sie ihren Vater einen Augenblick noch hinhalten.

„Wie kommst du darauf?“

„Nun ja, ich kann mich gut erinnern, wie wir früher gerne das Mageritenorakel haben sprechen lassen.“

„Mageritenorakel?“

„Jetzt tue nicht so, als ob du noch nie etwas davon gehört hast.“

Claire musste lachen.

„Doch, doch auch bei uns ist es angekommen und immer noch verbreitet.“

„Ist es die erste?“

„Wie die erste?!“

„Die erste Blüte natürlich. Gewöhnlich hat man ja nicht gleich den gewünschten Erfolg. Du weißt schon.“

Ihr Vater griff vorsichtig zu einer Mageritenblüte und begann ein weißes Blütenblatt nach dem anderen abzuzupfen.

„Er liebt dich.“

„Schön wär’s.“

„Nein ganz bestimmt, das Orakel lügt nie.“

„Ach Papa, du bist ein Träumer.“

„Wieso den das, sag nicht, du willst nicht, dass er dich liebt?!“

„Doch, doch.“

„Wie heißt er denn?“

„Jacomo.“

„Jacomo, was für eine Name.“

„Papa, mach dich nicht lustig über mich.“

„Tue ich doch nicht. Ich finde den Name wirklich schön. Hält der Name, was er verspricht. Erzähl mir von ihm.“

Claire begann zu erzählen, wo sie Jacomo kennengelernt hatte. Es war eine eher flüchtige Bekanntschaft bei der letzten Fete ihrer Freundin Anna. Jacomo hatte aber bereits eine Freundin.

Claire begann zu weinen. Ihr Vater nahm sie erneut in den Arm und streichelte ihr sanft über den Kopf.

„Wir werden das Orakel nochmals befragen. Wenn es wieder positiv ausgeht, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass Jacomo bald schon in tiefer Liebe zu dir entbrennen wird.“

Olga stand neben Claire und sah sie verwundert an.

„Claire?“

Claire nahm sie nicht sogleich wahr.

„Que paso, mi corazón?“

Claire schüttelte den Kopf. Wie sollte sie der alten Frau nur erklären, was gerade in ihr vorging. Selbst in der eigenen Sprache fehlten ihr dazu die rechten Worte.

„Quien es Jacomo?“

Sie musste offensichtlich in Gedanken den Namen von Jacomo ausgesprochen, wahrscheinlich mehrfach wiederholt haben.

Claire schüttelte abermals den Kopf. Ihr zu erklären, wer Jacomo war, wäre nun wirklich zu viel verlangt. Sie nickte der alten Frau mit geschlossenen Augen zu, so als wolle sie ihr damit zu verstehen geben, dass sie sich nicht weiter um sie kümmern solle.

Die alte Frau schien intuitiv zu erfassen, was Claire ihr ohne Worte zu verstehen geben hatte und zog ihres Weges.

Noch benommen setzte Claire ihren Weg in die andere Richtung fort. Sie überquerte die Straße und bog auf einen Trampelpfad entlang des kleinen Baches ein. Hier war weit und breit niemand in Sicht. Ihr war nach einem ruhigen Ort. Dort wollte sie wieder zu sich kommen.

Sie war eine Weile unterwegs, als sie mitten im Bach einen großen Stein entdeckte, groß genug, um sich dort niederzusetzen. Sie zog ihre Schuhe aus, ließ sie am Ufer stehen und watete durch den seichten Bach zum großen Stein. Das Wasser hatte eine angenehm frische Temperatur.

So saß sie da, die Beine bis zu den Waden im Wasser baumelnd und sah den Libellen zu, wie sie dicht über der Wasseroberfläche kreisende Schleifen zogen. In ihren Facettenaugen reflektierte sich das Sonnenlicht.

Das zweite Mageritenorakel, so erinnerte sie sich, war damals auch positiv ausgegangen. Mit dem Gefühl, er liebt mich doch, was sie frohgemut eingehakt bei ihrem Vater nach Hause zurückgekehrt. Wenige Wochen später wurde ihr jedoch auf einer andere Fete unmissverständlich klar: Jacomo würde sie nie wirklich wahrnehmen, noch würde sein Herz je für sie Feuer fangen. Der Schmerz und die Enttäuschung waren mit einem Mal so spürbar real, als sei sie gerade erst von der Fete zurückgekehrt und habe sich schluchzend aufs Bett geschmissen.

Claire beugte sich über. Sie hielt ihre Hände einige Zeit untergetaucht und schöpfte dann eine Hand voll Wasser, mit der sie sich die Schläfen befeuchtete. Dann schöpfte sie erneut und ließ das kühle Nass nach und nach auf ihren Kopf tröpfeln.

Eigentümlich dachte sie. Sie war sich so sicher gewesen, dass alles Vergangene nur noch durch ihren eigenen Willen gesteuert emporsteigen würde. Das hatte sie sich nach mancher Enttäuschung eines Nachts auf ihrem Bett liegend geschworen.

Sie hätte es besser wissen müssen, schon von Berufs wegen.

Claire fühlte sie überfahren, von allem, was gerade im Begriff war, an die Oberfläche zu gelangen.

Einen Moment war sie unachtsam, verlor das Gleichgewicht und landete Kopf über im Bach. Sie schluckte Wasser und musste, als sie den Kopf aus dem Wasser hob, wiederholt kräftig ausspuken. Dann ließ sie sich zurückfallen. Sie spürte, wie das fließende Wasser ihren ganzen Körper seicht umspülte und wie sie über den sandigen Boden schrabbte.

Sie schaute in den blauen Himmel über ihr und überlegte, ob die Kraft der Strömung wohl ausreichen würde, um sie davon zu treiben.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, nichts weiter als ein Stück Treibholz zu sein. Ein Etwas, das am Ende mit der Mündung eines großen Flusses vielleicht sogar in die Weite des Ozeans gespült wurde.