Spiegelungen II, VII

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Claire fröstelte. Die Temperaturen des Baches waren doch niedriger, als sie es zunächst wahrgenommen hatte. Sie setzte sich aufrecht im seichten Flussbett hin. Eine leichte Brise umspielte ihren Oberkörper. Deutlich konnte sie die Kraft der Hochlandsonne auf ihrem Rücken spüren. Dies war sehr angenehm.

„Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“

Claire sah sich verwundert um. Sie konnte nicht glauben, dass diese Worte aus ihrem Inneren hervorgekommen waren. Es war niemand zu sehen. Außerdem, hier sprach doch niemand ihre Sprache.

Was geht in mir vor, fragte sie sich. Warum sollte sie als bekennende Atheistin plötzlich zu Worten Jesu greifen. Jene biblische Szene im Garten Gethsemane stand ihr mit einem Mal deutlich vor Augen.

Eine Zeitlang hatte sie den Kindergottesdienst besucht. Ihr Vater, der damals gerne in den Sonntagsgottesdienst ging, hatte sie einfach mitgeschleppt. Einmal, es muss um die Osterzeit gewesen sein, hatten sie die Szene im Garten Gethsemane nachgespielt. Sie übernahm damals die Rolle des Judas. Keiner wollte sie haben. In einem Anflug von erstem Verliebtsein in Sascha, der den Jesus darstellen durfte, hatte sie die Gunst der Stunde genutzt, ihm ganz nahe kommen zu können. Sie wollte in unbedingt küssen und der Preis dafür, die von alle gehasste Rolle des Verräters zu spielen, nahm sie billigend in Kauf. Pfr. Neumann hatte sich irgendwann geräuspert und die Stimme leicht erhoben: „Claire… wir spielen hier keine Liebesszene.“ Daraufhin hatte sie verlegen von dieser traurigen Jesusgestalt abgelassen. Selbst ihr feuriger Kuss hatte sein Gemüt nicht aufhellen können. Einige Wochen danach noch war sie von den anderen mit „Da kommt ja unser Judas.“ begrüßt worden. „Mal sehen, wen er heute küssen wird.“ Geschmacklos, fand sie derlei Äußerungen. Ein Grund mehr, warum sie kurze Zeit später ihren Vater nicht mehr begleiten wollte.

Während sie so dasaß, die Sonne mehr und mehr in T-Shirt trocknet, den Rest ihres Körpers kaum noch spürte, aus Kälte, oder weil sie jedes zeitnahe Gefühl für sich verloren hatte, dies ließ sich nicht sagen, begann sie sich zu fragen, warum sie sich dem Glauben der Illusionisten, wie sie die Anhänger einer religiösen Gemeinschaft nannte, bis heute verschlossen hatte. Warum hatte sie der Ruf des HERRN, wie ihre Großmutter früher gerne gesagte hatte nie ereilt.

Ihr war in den wenigen Tage hier im Land nicht entgangen, dass die Menschen von einem sehr fundamentalen Glauben beseelt waren, der sich durch ihr ganzen Alltag zog. Sich beim Vorbeigehen an einer Kirche, oder einem Friedhof zu bekreuzigen schien etwas Alltägliches. Und immer wieder wünschten die Menschen sich und auch ihr als Fremde einen gesegneten Tag.

Hatte sie bislang mit den falschen Menschen zusammengelebt, Menschen, die wie ihr Vater von sich zwar behaupteten, sie seinen Christen, dessen Leben sich aber nicht von dem von Annas Vater unterschied, der immer wieder auf die Katholiken im Besonderen schimpfte, mit seiner Kritik aber auch vor den Protestanten nicht Halt machte. „Sie manipulieren die Menschen bis heute mit Scheinwahrheiten und kassieren dafür noch Geld. Schmerzensgeld müsste man mir zahlen, damit ich bereit wäre, einen Gottesdienst von Pfr. Neumann zu besuchen.“

Wahrscheinlich war ihre Großmutter Frieda viel zu früh gestorben. Für sie schien der Glauben noch etwas Anderes zu sein. Sie überlegte, was es war. Sie fand keine passenden Worte. Geborgenheit fiel ihr letztlich ein. Nicht letzte Erkenntnisse in die Geheimnisse des Lebens. Eher so etwas wie Halt, trotz allem, trotz all dessen, was das Leben einem zumutet.

Als Großmutter Frida krank wurde und am Ende sehr leiden musste, strahlte sie dennoch eine große Gelassenheit aus.

„Oma, wie machst du das. Du hast solche Schmerzen und doch verlierst du nur selten dein Lächeln?“

Sie nahm daraufhin Claire spontan in den Arm und drückte sie fest. Claire konnte dabei deutlich spüren, wie die Kraftanstrengung ihr große Schmerzen bereitete.

„Weiß du, meine Liebe, die Schmerzen sind manchmal unerträglich. Ja, das ist so… Aber auch das ist ein Teil meines Lebens. Ich kann ihn nicht, nur weil er mir unangenehm ist, von mir weisen. Ich nehme auch das bittere Ende meines Lebens an. Aber so bitter ist es gar nicht. Bald werde ich meine Ruhe finden und bei Gott sein. Und bis dahin hältst du Wache bei mir. Versprochen!?“

„Ja, Oma, versprochen!“

Wer würde später einmal Wache an ihrem Sterbebett halten, schoss es Claire durch den Kopf. Wohl irgendeine Pflegerin, wenn sie Zeit hat und ihr Dienst es zulässt.

Hola!“

Claire schreckte auf. Sie sah am Ufer zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, wie sie mit den Händen in der Luft fuchtelten und immer wieder „Hola!“ riefen.

Que paso?“, fragte der Junge.

Nun reicht es mir, dachte sie in einem Anflug von leichtem Ärger. Warum muss mich heute jeder nach meinem Befinden fragen? Dann beruhigte sie sich und lächelte die Kinder kopfschüttelnd an.

Nada! Todo esta bien!“

Soviel konnte sie hervorbringen, sodass die Kinder sie wieder sich selbst überließen.

Wie kam es nur, dass alle Welt von ihr heute wissen wollte, was passiert sei. Sie konnte es doch selbst nicht sagen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr gesamtes Leben langsam auf Links gedreht.

Sie war im Begriff ihr Bild von ihrem Vater zu überdenken. Aber wollte sie das überhaupt. Er war es doch, der damals gegangen war, sie und ihrer Mutter alleine gelassen hatte. Dafür hasste sie ihn bis heute. Er hätte doch wissen müssen, was dies für sie bedeuten würde. Sie mit dieser Frau alleine zu lassen, war das Schlimmste, was er ihr antuen konnte. Was musste sie sich nicht alles über das Leben im Allgemeinen und über ihren Vater im Speziellen anhören.

Selbst die anfänglichen Wochenenden bis… sie stockte, egal bis wann, irgendwann wäre es eh dazu gekommen. Nichts hätte etwas daran ändern können. Nur das eine vielleicht: Dass er einfach geblieben wäre. Sie wären sicherlich zu einer guten Allianz fähig geblieben. Ohne Gegenwehr, einfach zu gehen, war feige.

Im Grunde wollte sie nie einen Märchenvater, keinen König, der ihr den Prinzen für Leben herbeischafft. Sie wollte einfach nur jemanden, der da ist. Da war, wenn sie mit schlechten Noten aus der Schule. Da war, wenn sie mit Liebeskummer von einer Fete sich heulend auf ihr Bett schmiss. Da war, um sie von der manchmal überbordenden Liebe der Mutter in Schutz zu nehmen.

Wichtige Jahre ihres Lebens, war er nicht da gewesen.

Zeiten, in denen sie ein väterliches Gegenüber gebraucht hätte. Keinen Kümmerer, auch keinen Besserwisser. Eher jemanden, von dem sie wusste, da er selbst schon gescheitert war, wie sich Unglück und Ünglücklichsein anfühlte und dass es einfach zum Leben dazu gehörte und sich ganz und gar nicht vermeiden ließ.

Wie gerne hätte sie darüber gesprochen, wie er mit seinem Scheitern umgegangen war. Wie er sich nach einer rabenschwarzen Nacht am Lichtschein eines neuen Tages erfreuen konnte. Und nicht zuletzt, was wirklich dran war, an seinem Glauben.

Stattdessen hatte er sie, gerade wenn die Luft dünn wurde, mit Allerweltsweisheiten konfrontiert, die nur eines im Sinn zu haben schienen: Sie ruhig zu stellen.

Nichts gegen Weisheiten Im Grundsätzlichen, dachte Claire, sie können Orientierung geben, können helfen, die Dinge besser zu verstehen und vielleicht sogar zu angemessenem Verhalten führen. Aber was soll man als Jugendliche mit Sätzen wie „Man kann nicht immer das bekommen, was man will.“ Was soll man damit in einem Augenblick anfangen, wo die nächste Fete lockt und man danach fiebert, dem langersehnten Schwarm endlich einmal näher kommen zu können.

Claire spürte, wie die längst verschüttete Wut erneut in ihr hochkam. Sie schlug mehrfach schreiend mit beiden Fäusten auf die Wasseroberfläche. Das Wasser spritzte hoch. Erst als ihr die Kräfte schwanden, hielt sie inne.

Dieser Kerl hatte sie in all seiner Unfähigkeit oder aus lauter Feigheit, ruhiggestellt. Warum, es war im Grunde genommen egal. Hatte Sätze wie diesen auf ihre Seele gebrannt. Ihr war es nicht besser ergangen als irgendeiner Kuh auf einer beliebigen Weide. Das Brandzeichen zeigt immer, wohin man gehört. Sie kam aus dem Stall „Wir bekommen nicht immer das, was wir wollen.“

Wie sehr hatte dieser Satz ein Leben lang seine Wirkung entfaltet und sie eingeschüchtert. Ob im Privatleben, wenn sie zu lange an Beziehungen festhielt, die keine waren, nur weil sie dachte, mehr sei einfach nicht drin. Im Beruf, wenn sie wieder die nächste Welle der Überstunden entschuldigte und damit in Kauf nahm, dass das Leben eben nicht nur Vergnügen gedeutete.

„Kerl, weiß du, was du für einen riesengroßes Arschloch gewesen bist?“

Claire musste den letzten Gedanken förmlich aus sich herausgeschrien haben, langgezogen und mit solcher Kraft, dass sie nun ein leichtes Brennen im Hals spürte.

Eine weitere Welle von Schlägen ging auf die Oberfläche des davon unbeeindruckt scheinenden Baches nieder. Dann ließ sie sich völlig erschöpft zurückfallen. Ihr Kopf tauchte unter Wasser.