Als Claire wieder aufwachte und die Augen öffnete, sah sie direkt in ein riesiges Kuhgesicht. Sie schrie lauf auf. In ihrer aufkommenden Panik ließ sie sich zur Seite rollen. Nun mit etwas Abstand sah sie die Kuh an, die ihrerseits, gleichwohl unbeeindruckt von dem Schrei, stoisch da stand und sie betrachtete.
Claire griff ihre Schuhe und rannte so schnell sie konnte los. Nach einer Weile drehte sie sich nochmals um. Die Kuh stand immer noch da. Was für eine Kuh, dachte sie, und gleichzeitig, so gelassen möchte ich auch einmal sein.
Als sie immer noch barfuß und außer Atem auf die Veranda trat, sah sie Olga fragend an. Nicht noch einmal diese Frage, dachte Claire und schob sich schnell an Olga, die gerade aufgestanden und selber im Begriff war ins Haus zu gehen, vorbei.
Klatschnass ließ sie sich aufs Bett fallen. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür.
„Tienes hambre, Claire?“
„No, gracias.“
Die Worte kamen etwas barsch aus ihr heraus. Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen schickte Claire noch ein „Muy amable.“ hinterher. Woraufhin ein „Con mucho gusto“ zu hören war. Gratuliere, immerhin so etwas wie eine erste Minikonversation, dachte Claire. Sie beschloss nochmals unter die Dusche zu gehen, denn offensichtlich hatte sie das halbe Bachbett mitgenommen.
Nach der Dusche begegnete sie Olga. Sie sah sie freundlich an, hob leicht die Augenbrauen, so als wolle sie fragen, wie sieht es jetzt mit dem Hunger aus. Claire nickte einfach und ging weiter. Sie war gerade angezogen, als es erneut klopfte.
„Esta listo.“
„Ya voy.“
Wow, dachte sie, geht doch. Bald werde ich mich fließend mit Olga unterhalten können. Dabei rümpfte sie die Nase, denn sie wusste nur zu gut, dass in der Kürze der Zeit kaum mehr als ein paar Brocken lernbar waren. An eine Unterhaltung war kaum zu denken.
Beim Essen merkte Claire, welchen Hunger sie hatte. Olga sah ihr lächelnd zu, während sie die wohlduftende Kartoffelsuppe in sich hineinlöffelte. Zum Nachtisch gab es irgendeine gekochte Frucht, die etwas wahrhaft exotisches hatte. Als Olga ihr nach dem Nachtisch einen tinto brachte, blieb sie vor ihr stehen.
„Junter, llegara mañana.“
“Wie bitte?”, entfuhr es Claire. Sie hatte außer „Morgen“ nichts verstanden. Olga hatte sie dieses „Wie bitte“ schon manches mal zu hören bekommen und es irgendwann intuitiv verstanden.
„Junter, el amigo de su Papa.“
„Günter, der Freund meines Vaters, ja was ist mit ihm?“
Eigentümlich, wie man miteinander reden kann, ohne die Sprache des anderen zu gebrauchen und ohne die jeweiligen Äußerungen wirklich genau zu verstehen. Claire war verblüfft und erheitert zugleich.
„Llegara mañana.“
Olga machte dabei mit den Fingern eine Handbewegung, die andeutete, das Günter wohl am morgigen Tag im Anmarsch sein würde. Vielleicht nicht schlecht, so lässt sich die Sprachbarriere mit Olga etwas überwinden. Und nach dem ersten Eintrag über Günter in Vaters Tagebuchnotizen war Claire gespannt auf ihn.
Claire nickte Olga zustimmend an.
„A las once en la mañana.“
Also um elf Uhr würde er kommen. Eine gute Zeit, um in Ruhe aufstehen zu können.
Das Essen hatte Olga etwas schläfrig gemacht. Sie beschloss trotz der vorgerückten Zeit, es war immerhin schon nach drei, noch eine kleine Nachmittagspause einzulegen.
Bevor sie die Augen schloss, wollte sie aber noch etwas in den Aufzeichnungen des Vaters blättern.
So langsam gewöhne ich mich an das Klima hier und die doch körperlich anstrengende Arbeit eines Kaffeeaushilfsbauern. Einer der Vorarbeiter mit Namen Juan, leitet mich mit viel Geduld an, erklärt mir die Vorgänge bei der gegenwärtigen Kaffeeernte so oft, dass ich, wenngleich ich immer noch nicht viel verstehe, irgendwann verstanden habe, wie es geht. Die ersten Tage habe ich eigentlich mehr oder weniger nur zugeschaut. Auf die Finger geschaut, muss ich sagen. Denn die reife rote Kaffeebohne wird hier ausschließlich von Hand geerntet. Noch stelle ich mich selbst etwas unbeholfen an. Manches Mal muss ich die Kaffeebohne, die mir beim Pflücken durch die Finger gleitet vom Boden aufheben. Meine Finger umfassen die einzelne Bohne noch nicht so geschickt. Mit der Zeit wird das schon, sage ich mir. Abends kehre ich total erschöpft und irgendwie zufrieden zurück und freue mich auf das Abendmahl, mit dem mich Olga tagein, tagaus empfängt. Ich habe es bei ihr mehr als gut angetroffen. Gerne würde ich mich mehr mit ihr unterhalten können, aber…
An dieser Stelle war Claire eingeschlafen und erwachte erst wieder als die freundliche Stimme Olgas von einem leichten Klopfen begleitet sie weckte.
„Cafecito?“
“Ya voy, gracias.”
Claire las noch die begonnene Tagesnotiz zu Ende, bevor sie aufstand.
Gerne würde ich mich mehr mit ihr unterhalten können, aber meine Sprachkenntnisse sind dafür noch nicht ausreichend. Erstaunlich ist trotzdem, dass die Sprachbarriere eigentlich keine ist. Ich werde hier so freundlich und nett behandelt. Das erleichtert manches, denn es ist doch eine arge Umstellung, hier zu leben. Die Glühbirnen meiner Nachtischlampe und an der Decke sind die einzige Errungenschaften der Moderne. Kein Fernseher, ein Herd, der mit Feuerholz beheizt wird. Ach doch, noch ein uralter Kühlschrank, den man bis auf die Straße hört und der mir so einige Nächte den Schlaf geraubt hat. Mittlerweile habe ich mich an das Gurgeln und Ächzen gewöhnt. Vorgestern war ich noch auf ein Poker in der Tienda nebenan. Gerade lief irgendein Fußballspiel. Bin sitzengeblieben. Juan war auch da und hat mit als Neuen aus Alemania vorgestellt. Für wen hier wer war, konnte ich nicht feststellen. So richtig mitbekommen, wer gespielt hat, habe ich auch nicht. Im Grunde freute man sich einfach, bei einem Bier, zweiundzwanzig Männern beim Kampf um den Ball zu zuschauen. Es fiel nur ein Tor. Ich hätte gerne mehrere Tore gesehen. Nun interessiert mich brennend, ob nach jedem Tor an der gegnerischen Eckfahne ein Tänzchen aufgeführt wird. Einer von den anwesenden Männern ist spontan aufgestanden und hat seine nicht mehr allzu schlanken Hüften geschwungen. Beim nächsten Spiel bin ich wieder dabei. Wann war ich das letzte Mal zum Fußballgucken in einer Kneipe? Ist lange her, muss zu der Zeit gewesen sein, als man noch keinen Fernseher zu Hause hatte. Nach dem Spiel haben wir noch lange draußen gesessen. Ich hatte einfach keine Lust nach Hause zu gehen. Ich habe nichts, das heißt nur Brocken verstanden, und doch konnte ich mich nicht sattsehen an diesen braungegerbten Gesichtern. Oftmals zeigt das fröhliche Lachen einen fast zahnlosen Ober– und Unterkiefer. Bis auf einen, den alle nur „El Malo“ nennen, weil er mit seinen beiden den Oberkiefer zierenden Goldzähnen irgendwie an den Bösewicht aus alten Bondfilmen erinnert. Die Tienda Tres Palomas ist zu so etwas wie meiner Stammkneipe geworden. Hatte früher nie eine, aber hier gehört es irgendwie dazu, sich abends oder an Wochenenden auf ein Poker, es können auch mehr werden, zusammenzufinden. Nächsten Sonntag bin ich zum Tejo, eine Art Volkssport wie mir scheint, eingeladen. Direkt neben der Tienda ist das Spielfeld. Die Regeln habe ich noch nicht so recht verstanden. Offensichtlich geht es darum, vergrabenes Sprengstoff mit einem Wurfgeschoss aus Eisen zur Explosion zu bringen. Ich bin gespannt. Irgendwie ist alles etwas verrückt hier, angenehm verrückt, so dass der eigene Irrsinn nicht so auffällt, oder für andere unangenehm ins Gewicht fällt. Für Fred und Ben wär das hier sicher auch ganz nach ihrem Geschmack.