Spiegelungen II,IX

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„Bleibt verrückt,

doch verhaltet euch so wie normale Menschen.

Geht das Risiko ein, anders zu sein, doch lernt dies zu tun,

ohne die Aufmerksamkeit auf euch zu lenken.

Konzentriert euch auf die Blume und lasst zu,

dass euer wahres Ich sich manifestiert.“

Paulo Coehlo – Veronika beschließt zu sterben

Claire zog sich an diesem Abend früh zurück. Sie war irgendwie erschöpft, ohne sagen zu können, warum eigentlich. Die frühe Dämmerung trug das ihre dazu bei, gefühlt zumindest den Eindruck zu haben, es sei an der Zeit zu Bett zu gehen.

Auf dem Bett liegend ließ sie nochmals die Eindrücke des Tages an sich vorüberziehen. Ihre innere Welt war dabei sich zu verrücken. Gleichsam so, als würde sich etwas in ihr entspiegeln. Der Blick konnte nun klarer sehen, was vorher durch die äußere Welt noch undeutlich erkennbar war.

Claire griff zu ihrem Reisetagebuch. Allzu viel hatte sie hier noch nicht notiert. Nun versuchte sie Gedanken, die ihr spontan kamen zu ordnen. So kam ein Wort zum anderen. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich vor dem Spiegel stehen und sich selbst betrachten.

manchmal

wenn ich dich so ansehe

scheint es mir

als würde ich dich

zum ersten mal anschauen

 

augen

sehen mich an

ein blick begegenet mir

von jemandem

den ich bisher gar nicht kannte

 

ich habe

hinter den spiegel gesehen

ein anderer mensch

ist mir entgegengetreten

 

ich sehe dich

von einer anderen seite

du scheinst wie neugeboren

 

ich verweile

gerne mit dir

hinter deinem spiegel

sehe dich an

sehe dich

wie du wirklich bist

weil du dich entspiegelt hast

vor mir

 

Als Claire das Notierte nochmals las, fragte sie sich: Bin ich es, die diese Zeilen geschrieben hat. Es schien so unwirklich. Die Worte waren wie aus einer anderen Welt. Sie hatten so wenig mit ihrem in den letzten Jahrzehnten so geordneten Leben zu tun. Wie viel Kraft und Energie hatte es sie darauf verwendet, mit der Vergangenheit abzuschließen. Und jetzt war sie im Begriff, alles längst bei Seite Gelegte neu hervorzuholen. Nein, mehr noch, sich auf Dinge einzulassen, derer sie bis vor kurzem nicht gewahr gewesen war.

Gleichzeitig fragte sie sich, was sie mit den gewonnenen Erkenntnissen machen würde. Sie konnte es nicht sagen.

Claire schlief mit lauter Fragen und wirren Gedanken ein.

In der Nacht wachte sie mit klopfendem Herzen auf. Erleichtert atmete sie auf, als sie merkte, dass sie dem Traum entstiegen war. Dennoch standen ihr die Bilder ihres Traumes überdeutlich vor Augen.

Bei der Heimkehr von der Arbeit fand sie die Wohnungstür am Abend offen stehend. Einen Moment zögerte sie, ob sie weiter gehen sollte. Sie war sich sicher, die Tür am Morgen geschlossen und abgeschlossen zu haben. Trotz eines unguten Gefühls und obwohl die Tür schon deutliche Einbruchspuren verriet, betrat sie ihre Wohnung. Das Bild, was sich ihr darbot, hatte etwas Gespenstisches. Nichts, aber auch gar nichts war mehr an seinem Ort. Möbel waren umgeworfen, zum Teil zerstört. Bilder waren von den Wänden gerissen. Schubladen aus den Schränken und Kommoden gezogen und auf dem Boden ausgekippt. Der Inhalt des Kleiderschrankes ergoss sich bis ins Bad. Dort waren Tuben und sonstige Behältnisse geöffnet und entleert, oder einfach auf den Boden geschmissen und dabei zu Bruch gegangen. Die Scherben des Spiegels waren über dem Waschtisch verstreut. Einzelne Splitter waren über das ganze Bad verteilt. In der Küche schien das angerichtete Chaos fast am größten zu sein. Man hatte den Eindruck der Müllwagen habe allen Unrat einfach ausgekippt. Unberührt hingen allein die Lampen an der Decke. Claire wollte beim ersten Blick in den Flur schreien. Kein Ton verließ ihre Kehle. Im Gegenteil, mit jedem Raum schnürte sich ihr Hals mehr und mehr zu. Panik erfasste sie. In dem Augenblick, wo sie Luft schnappen auf den Balkon stürzt, wachte sie auf.

Wie töricht von mir, dachte Claire, als sie sich etwas beruhigt hatte, zu glauben, ich könnte diese Reise doch eher aus Distanz und frei von Emotionen angehen. Sie war im Begriff, Fenster in eine kaum bekannte Sphäre zu öffnen. Alte Wunden waren im Begriff aufzuplatzen und verbreiteten schon bei der ersten Luftzufuhr einen ungeheuren Gestank.

Ihr wurde schwindelig. Sie begann zu würgen. Etwas wollte raus aus ihr. Sie trat ans Fenster und versuchte etwas mehr Luft zu bekommen. Noch hing die Schwüle des vergangenen Tages in der Luft. Der leichte Wind war kaum spürbar.

Ringsum war Nachtruhe eingekehrt. Selbst die Nachbarshunde waren zur Ruhe gekommen. Mit dem ersten Hahnenschrei würde ihr erstes Bellen spätestens wieder zu hören sein.

Claire ging zum Bett zurück und nahm auf der Bettkante Platz. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als möglichst bald in einen tiefen Schlaf zu fallen. Ihr Körper aber signalisierte ihr, dass es wohl noch eine Weile bis dahin dauern konnte.

Also beschloss sie, noch eine kleine Runde zu machen. Vielleicht würde ihr die Bewegung gut tun und sie könnte die unguten Gedanken irgendwo draußen lassen.

Erstaunlicherweise schlug keiner der Nachbarhunde an, als sie die Dorfstraße entlangging. Sie bog den Weg, den sie am Vormittag genommen hatte nochmals ein. Der Bach verbreitete eine angenehme Frische.

Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurde ihr Schritt sicherer. Der Mond war durch die fast dichte Wolkendecke kaum zu sehen. Ihre Gedanken schwirrten in ihrem Kopf, wie Nachtfalter um das Licht einer Kerze. Und doch war sie weit davon entfernt, im Schein der Lichtpunkte in ihren Gedanken wirklich etwas Konkretes sehen und erkennen zu können. Es war eher so, als würde sich jeder klare Gedanke, bei Licht betrachtet, in sich selbst auflösen. Gab es auch für Gedanken schwarze Löcher, die alles in sich aufsogen und nichts mehr preisgaben.