Spiegelungen II,X

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Ich weiß, dass die Freiheit einen hohen Preis hat,
einen ebensogroßen wie die Versklavung;
mit dem einzigen Unterschied,
dass man den Preis freudig und mit einem Lächeln zahlt,
selbst wenn man unter Tränen lächelt.
Paolo Coelho – Der Zahir

In der Nacht erwachte Claire mit einem von Tränen überströmtem Gesicht. Sie richtete sich auf. Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Wie sehr sehnte sie sich die Dämmerung des anbrechenden Morgens herbei. Sie knipste die Nachtischlampe an. Sie hatte Mühe, die Augen geöffnet zu halten. Und dennoch war etwas in ihr so wach, das es sie nicht weiterschlafen ließ.

Es war etwas Anderes, was sie empfand, nicht Müdigkeit, sondern eine tiefe Erschöpfung. Sie war froh, für die nächste Zeit dem Alltag entrückt zu sein. Das Licht begann zu flackern, so als habe ein zarter Windhauch die Flamme einer Kerze erfasst. Dann ging es aus, um kurze Zeit später das Zimmer kaum wahrnehmbar wieder zu erleuchten. Der Schirm der Lampe warf einen matten von lichten Punkten durchlöcherten Schatten auf die gekalkte Wand.

Claire begann die Punkte zu zählen. Sie kam auf siebzehn. Eine Primzahl, dachte sie. Als Schülerin hatte sie sich gewünscht eine Primzahl zu sein. Nur durch eins und durch sich selbst teilbar. Einzigartig, unverwechselbar.

Als ihr Vater von einem Tag auf den anderen verschwand, hatte sie sich manchmal eingeredet, sie habe nur noch genetisch mit diesem Absonderling zu tun. Bei Menschen die sie in ihrem weiteren Leben nach ihm fragten, erklärte sie einfach, sie habe keine Ahnung. Ihr Vater habe die Mutter noch während der Schwangerschaft sitzen gelassen. Das wirkte und ließ den Fragenden meist betreten schweigen. Für den Fall, dass jemand hartnäckiger am Ball blieb, hatte sie sich eine andere obskure Antwort zurecht gelegt: Ihr Vater sei von einer Dienstreise in Afghanistan nicht zurückgekehrt und wahrscheinlich bei den Talibans untergetaucht. Hiermit erntete sie in der Regel ungläubiges Kopfschütteln.

Rückwirkend betrachtet schämte sie sich etwas. Nicht, dass sie es guthieß, was ihr Vater ihr mit dem Weggang angetan hatte, die Verletzung war immer noch da, aber die letzten Tage hatte sie milder gestimmt. Der Blick auf eine totgesagte Person hatte andere Facetten erhalten. Zudem konnte sie erleben, wie sich der Blick auf ihr eigenes Leben veränderte.

Sie hatte über all die Jahre ihre innere Abkehr von ihrem Vater als befreienden Schritt erlebt. Es war damals so etwas wie eine Initialzündung zu einem selbstbestimmten Leben in Freiheit. Auf die Frage nach Familie und Geschwistern antwortete sie meist abgeklärt: „Es gibt sie, aber ich komme ganz gut ohne sie aus. Du etwa nicht?“ Mit der Gegenfrage setzte sie in der Regel ihr Gegenüber matt. Wer konnte schon sagen, dass in seiner Familie alles zum Besten steht. Bis auf Annas Familie, dem Fluchtstützpunkt ihrer Jugend.

Wie frei kann man wirklich sein, überlegte sie, wenn man sich so radikal von einem Elternteil separiert. Ist die Wahrscheinlichkeit, dass das in frühester Kindheit Aufgenommene unreflektiert weiter wirken kann, nicht viel höher. Mit einem Mal wünschte sie sich, sie könnte sich nochmals so richtig lebhaft mit ihrem Vater streiten.

„Du bist, auch wenn du es nicht wahrhaben willst, ganz dein Vater.“

Gelegentlich hatte sie dies von ihrer Mutter im weiteren Verlauf des Lebens zu hören bekommen. Meist hatte sie dies wütend abgestritten, innerlich aber zugeben müssen, dass ihre Muter gar nicht so Unrecht hatte. Irgendwann war es ihr sogar mit einer Klientin passiert, dass dies wütend das Sprechzimmer verlassen hatte, die Tür zuschlug und vom Gang noch gut hörbar ein „Sie sind wie mein Alter.“ von sich gab.

Claire musste beim Gedanken daran schmunzeln und sagte sich: Ja, mein alter Herr, ich kann doch nicht leugnen, deine Tochter zu sein.

Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Gleichzeitig konnte sie den aufkommenden Schmerz annehmen. Sie konnte nicht sagen, dass sie wirklich etwas anders gemacht hätte. Und doch spürte sie, wie sie langsam bereit wurde, sich mit dem Vergangenen zu versöhnen.

 

Als Claire nach Hause kam und die Wohnungstür öffnete, kam ihr eine angespannte Stimmung entgegen. Ihre Mutter saß heulend auf dem Sofa, versuchte ihre Emotionen sogleich in den Griff zu bekommen, als Claire das Wohnzimmer betrat. Zum Schein griff sie zur Fernbedienung des Fernsehers und schaltete ihn vermeintlich aus, wobei sie ihn erst an und dann erst ausschalten konnte.

„Mama, was ist los.“

„Nichts mein Kind. Ich habe gerade etwas Trauriges gesehen.“

Claire wusste, dass ihre Mutter log. Es hatte aber keinen Zweck nachzuhaken. Da sie Gefahr lief, mit der Frage nach ihrem Vater, ein neuerliches Weinen auszulösen, verzog sie sich kommentarlos auf ihr Zimmer.

Sie ließ die Tür anders als sonst angelehnt offen stehen. Ein Zeichen, dass der Eintritt erlaubt, vielleicht sogar erwünscht sei.

An diesem Abend kam keiner mehr zu ihr ins Zimmer. Sie schlief ohne Abendessen in voller Montur ein. Erst in der Nacht, als sie nochmals erwachte, weil sie auf die Toilette musste, schloss sie die Tür hinter sich, zog sich aus und legte sich ins Bett. Schade, dachte sie, dass keiner mehr gekommen ist. Hätte gerne gewusst, was eigentlich los war.